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Calpurnia

Live Nation

Wie bei den Beatles

Ein Netflix-Star greift im Streaming-Zeitalter zur Rock-Gitarre und entfacht damit eine kleine Teenage-Hysterie.

Von Christian Lehner

Die Kids drängen sich vorne an der Bühne. Die Eltern halten sichere Distanz im hinteren Teil der Venue. Noch nicken sie entspannt zum Beat des DJs. Der Mann an den Decks tut Gutes. Er serviert den Erziehungsberechtigten 90ies-Hip-Hop – offensichtlich der Sound ihrer eigenen Jugend. Die Nerven sind wieder auf Chill, nachdem sich der Einlass in die Halle um zwei Stunden verzögert hatte. „Probleme mit der Altersfeststellung der Gäste“, raunt mir eine Security-Frau zu. „Unter 16 geht eigentlich nichts ohne Eltern“. Nicht nur die Zahl der gefälschten Schülerausweise dürfte den Veranstaltern Probleme bereitet haben, sondern auch die vielen ausstellenden Länder.

Schweden, Rumänien, Waldviertel, so lauten nur einige der Herkunftsdestinationen der Fans, die ich am Nachmittag interviewt hatte. Manche von ihnen harrten den ganzen Tag im Dezemberregen aus. In der Schlange, die sich um den Block zog, standen ausschließlich Mädchen. Sie alle waren wegen einer Band gekommen, die bisher bloß eine EP veröffentlicht und kaum mehr als ein Dutzend Shows gespielt hatte. Dennoch waren die Vorverkaufstickets der laufenden Welttour innerhalb weniger Stunden vergriffen.

Kreisch, Kreisch, Kreisch!

Nun wartet also alles auf die Deutschland-Premiere von Calpurnia. Ort und Datum dieses musikhistorischen Ereignisses: Kesselhaus, Berlin, 2. Dezember 2018, 21:00 Uhr. Die Lichter gehen an, oder aus, so genau weiß ich das nicht mehr. *Kreisch*, ein Orkan jugendlicher Erregung saust durch die Konzerthalle. Auf der Bühne tauchen schemenhaft Gestalten auf. *Kreisch*, Mädchen zittern, Mädchen weinen, Mädchen fallen sich in die Arme. *Kreisch*. Noch kein Ton gespielt. Dann geht es los: *Kreisch*, *Schrammel, Schrammel*, *Kreisch*. So soll es bis zum Ende des mit 11 Songs eher knapp bemessenen Sets von Calpurnia weitergehen.

*Kreisch*, so war das also damals bei den Pilzköpfen, denkt man sich. So kann das heute auch noch sein. Ein Überraschung. Nicht so sehr wegen der Teenage-Hysterie an sich, sondern dem Sound, der sie zu entfachen vermag. Kein Bieber-Pop, kein Gaga-Gegurgel, kein Cloud-Rap-Gemurmel entfleucht den Boxen auf der Bühne. Calpurnia spielen die Lieblingsmusik ihrer Eltern und Großeltern: The Beatles, Weezer, Nirvana, Pixies. Die Menge schwebt in einer Zeitblase.

Calpurnia in Berlin

Christian Lehner

Calpurnia live in Berlin, Dezember 2018

Die Menschen auf der Bühne sind so alt wie die Menschen davor. Finn (15) spielt Rhythmusgitarre und singt, Malcom (16) hockt am Schlagzeug, Frank (17) zupft den Bass und Ayla (17) spielt die Leadgitarre. Unter einem Live-Video von Calpurnia auf YouTube hat ein User folgenden Kommentar gepostet: „That girl is gonna have back problems from carrying this band.“ Das ist zwar gemein und stark übertrieben, aber Ayla Tesler-Mabe ist zweifelsohne die versierteste Musikerin der Teenie-Truppe aus Vancouver, Kanada. Während der Rest Sixties-Soundwolken produziert, schneidet Ayla an Eddie Van Halen geschulte Metal-Solo-Schneisen durch das Lo-Fi-Dickicht. Insgesamt rumpelt die Teenie-Truppe ziemlich souverän durch ihr Set.

*Kreisch*. Jede noch so kleine Geste, jede noch so belanglose Zwischenansage der Band wird mit dem Lärmpegel alter Formel-1-Motoren quittiert. Ayla: „Today I had boxed water for the very first time.“ *Kreisch*. Die Situation hat etwas Surreales. Alles hier ist echt: die Emotionen, die Musik, die Menschen. Aber doch steht auf der Bühne ein riesiger Elefant. Dieser Elefant heißt Finn Wolfhard. Er ist einer der Stars der Netflix-Serie Stranger Things. Die Show ist einer der größten Hits des Streaming-Zeitalters.

Rock’n’Roll im Streaming-Zeitalter

Obwohl mir am Nachmittag so ziemlich alle befragten Fans versichern, dass sie nicht wegen Wolfhard da sind, sondern wegen der Musik. Und obwohl mir auch Calpurnia beim Interview am Nachmittag versichern, dass hier niemand den Fame melken will, ist eines vollkommen klar: Niemand von uns wäre zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort ohne die Involvierung des Teenie-Stars. Aber er singt nicht schlecht, der Elephant in the Room.

Kennengelernt haben sich Finn und Schlagzeuger Malcolm Craig beim Dreh eines Musikvideos für die Band Pup. Von da an jammten sie zusammen. Ayla Tesler-Mabe trafen sie auf einem Summer-Rock-Camp. Nachdem 2016 die erste Staffel von „Stranger Things“ im Kasten war und Finn einen Benefiz-Gig spielen sollte, stieß noch Bassist Jack Anderson dazu. Seither ist die Band komplett.

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Radio FM4

Das Interview mit Calpurnia wurde auf Englisch geführt. Das ganze Interview gibt’s zum Anhören im FM4 Interview Podcast.

„Scout“ heißt die erste EP von Calpurnia. Sie ist im Sommer auf dem Indie Label Royal Mountain Records erschienen. Die Band schreibt die Songs zusammen (es gilt die Unschuldsvermutung!). Produziert hat Cadien Lake James von den Calpurnia-Idolen Twin Peaks. Der Kontakt wurde über Wolfhards Stranger-Things-Kollegen Joe Keery hergestellt. Die Songs strahlen trotz Retro-Sound etwas Frisches und Freches aus, was auch an Finns nasalem, hingerotzten Gesang liegt. Ähnlich wie die Zeitgenossen von Foxygen oder Lemontwigs rebellieren Calpurnia mit einer Musik gegen den Zeitgeist (Zitat: „Autotune is lame“), die noch vor wenigen Jahren selbst als breitarschig und rückständig galt.

Dass sie damit nicht die Charts stürmen werden, wissen sie selbst am besten. Auch deshalb verwehren sich Calpurnia gegen Hype-Vorwürfe. Und gegen Musikmanager, die Wolfhard eine Solo-Karriere angedeihen lassen wollen, oder den Sound der Band in Richtung „Stranger Things“ verschieben möchten. Mit dem New-Order-Cover „Age Of Consent“ haben Calpurnia zumindest einen Song mit 80ies-Ästhetik im Live-Repertoire.

Nach Beendigung der laufenden Welttour werden die vier Teenager am Debütalbum arbeiten, sofern es ihre Lehrer zulassen. Calpurnia sind noch immer Highschool-Kids. Die Direktionen erwiesen sich großzügig in Bezug auf Fehlstunden, gaben ihren Schützlingen jedoch Hausaufgaben mit auf die Tour.

Calpurnia in Berlin

Christian Lehner

Calpurnia beim FM4-Interview in Berlin, (v.l.) Finn Wolfhard, Jack Anderson, Ayla Tesler-Mabe, Malcom Craig.

Gegen Ende des Konzertes gibt es ein kleines Geburtstagsständchen für die Mutter von Ayla, die sich irgendwo im Publikum befindet. Alle singen lautstark mit, so wie bei allen Songs des Abends. Das Calpurnia-Publikum ist textsicher bis zur letzten Note. Dann die Verabschiedung, *Kreisch*, die erste Zugabe (Beatles: „Don’t Let Me Down“), *Kreisch*, und die zweite („City Boy“), *Kreisch*. Das Licht geht an, die Köpfe sind noch rot. Die Band kehrt nicht mehr zurück auf die Bühne. Die Fans ziehen brav in Richtung Garderobe ab, wo die Eltern erschöpft aber erleichtert auf sie warten. Schnell leert sich die Venue und alles ist vorbei. Woher sie die Musik von Calpurnia kennen, will ich noch abschließend wissen. Klar doch, vom Handy, sagen die Mädchen, von woher sonst?!

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