Der Sumpf-Jahresrückblick
Von Thomas Edlinger
„Legalize Freedom!“ Dieser Satz steht auf einem Transparent, das ein Flugzeug am Himmel über Louisiana erscheinen lässt. Die Szene stammt aus dem Dokumentarfilm „The Other Side“ von Roberto Minervini. Der Film lief im Rahmen der Viennale im Herbst 2018. Die andere Seite: Damit ist keine bekiffte Neohippieseligkeit gemeint, sondern das White-trash-Milieu im Süden. Ein paar von den Männern mit Bierdose und Knarre in der Hand ballern gern auf Obama-Masken. Höchstwahrscheinlich haben die meisten von ihnen ein Jahr nach dem Dreh des Films Donald Trump 2016 zum Präsidenten gewählt.
Wir haben es dieses Jahr oft gehört, vom Bundespräsidenten abwärts: Die Gesellschaft darf sich nicht spalten lassen. Wir gehören zusammen. Doch wer soll dieses „Wir“ sein? Leben Veganerinnen und Rednecks, Start-Up-Milliardäre und neue Sklavinnen in den Sweatshops überhaupt im gleichen Land, in der gleichen Zeit, in der gleichen Gesellschaft? Wir sind heute die, „die nicht mehr wissen, was die Rangordnung unserer ‚Wir‘ ist“, schreibt der junge französische Philosoph Tristan Garcia. Wir, das sind wir Wutbürger und wir non-binären Frutarierinnen, wir echten Österreicher und wir ohne Papiere. Das Wir hat kein Fundament, und jedes Wir muss sich begründen und behaupten.
Michael Faber spielt in seinem Roman „Das Buch der seltsamen neuen Dinge“ den Konflikt zwischen dem kleinsten Wir-Verbund und dem grenzenlosen Universalismus der Religion durch. Ein glücklich verheirateter Pfarrer wird auf Missionstour auf einen fremden Planeten geschickt. Die Botschaft Christi soll sich auf die ganze Schöpfung ausdehnen, während daheim im dystopisch verdunkelten Großbritannien langsam die Lichter ausgehen und die Liebe per Distanz zu verkümmern droht. Welches Wir ist nun stärker? Die verblassende Bindung an einem geliebten Menschen in einem feindlichen Umfeld? Oder ein loses Wir, das aus der Faszination für den unbedarften Alien im Weltall entsteht?
So göttlich veredelt die Liebe zum Universum auch sein will: Kein Wir kommt ohne „sie“ aus. Gesellschaft ist etwas, das immer schon gespalten ist. Nicht nur zwischen Naheverhältnissen der romantischen Liebe und Liebesabstraktionen zum Volk, zur Klasse, zur Natur oder zu Gottes weitem Reich. Doch erscheint die aktuelle Gespaltenheit - zumindest im Vergleich mit der wohlfahrtstaatlichen Nachkriegsordnung im Nationalstaat – wieder schärfer. Die versöhnte Gesellschaft ist ein Märchen. In dem käme Politik zum Stillstand. Theoretikerinnen wie Chantal Mouffe oder Nancy Fraser haben 2018 wieder einmal mit Nachdruck auf die Lebenslüge einer falschen Versöhntheit hingewiesen. Lange genug hat man die Spaltung vielleicht falsch interpretiert oder gar geleugnet. Es geht aber darum, sie zu verändern.
Die neue Qualität der Spaltung zeigt sich als Krise der Demokratie. Genauer: im Populismus, jenem nervenden Kind von ihr. Ständig macht es Probleme. Alle warnen vor dem Populismus oder verachten ihn. Und trotzdem wird er immer mächtiger. Warum?
Der an charismatische Führerfiguren delegierte Protest bringt die Verlustängste und die tatsächlichen Verluste wieder zur Sprache.
Er ist nicht einfach nur gut befeuerter sinnloser Hass auf abgehobene Eliten und plumper Rassismus gegen nicht mehr brav kuschende Minderheiten. Sonst gäbe es nicht, wie der Politikwissenschaftler Philipp Manow detailliert nachgewiesen hat, unterschiedliche Populismen für unterschiedliche soziale und geographische Lagen. Zum Beispiel einen Hang zum Rechtspopulismus im Norden Europas bei jenen, die etwas zu verlieren haben und einen zum Linkspopulismus im Süden, bei denen, die sich etwas erwarten. Im Norden fühlen sich große Wählerschichten von der Migration und deren Ansprüchen auf den im Vergleich immer noch relativ großzügigen Sozialstaat bedroht, im Süden gibt es diese Form der Globalisierungsentschädigung nicht in der gleichen Form. Dort richtet sich der Protest der Inländer eher gegen die Migration des Kapitals und ihre Folgen wie die Austeritätspolitik und die „ausländischen“ Sparpakete aus Brüssel.
Kann man nun daraus etwas für einen Linkspopulismus lernen, der auch in unseren Breiten Erfolg haben kann? Der Nationalismusvorwurf an die Linke und Sarah Wagenknecht legt nahe, dass „Links“ – und „Populismus“ nicht zusammengehen. Aber die Diskussion rührt am entscheidenden Punkt: Welches Volk kann gemeint sein, wenn man kein Volk im nationalen Sinn erwecken will? Wer passt rein in die kommende Gemeinschaft, der vorher noch nicht im Safe Space war und dort auch nicht rein will oder rein darf? Und wer ist der Gegner? Das gute alte Feindbild namens „Oligarchie“, wie Chantal Mouffe in ihren Plädoyer „Für einen linken Populismus“ nahelegt?
Wer das alles beantworten kann, kriegt den Karl-Marx-Gedächtnispreis. Apropos Preise: Hier sind unsere Lieblingsalben des Jahres. Haltbarkeitsdatum: zwischen ewig bis schon ewig abgelaufen.
„Sumpf“-Alben 2018

Staatsakt
Katharina Seidler
1. | International Music | Die besten Jahre | |
2. | Soap&Skin | From Gas to Solid / You Are my Friend | |
3. | Jenny Hval | The Long Sleep EP | |
4. | Lolina | The Smoke | |
5. | Katharina Ernst | Extrametric | |
6. | Jung an Tagen | Agent im Objekt | |
7. | Corinna Repp | How a fantasy will kill us all | |
8. | Amnesia Scanner | Another Life | |
9. | Farce | Heavy Listening | |
10. | Yves Tumor | Safe in the hands of love |

Play It Again Sam
Fritz Ostermayer
1. | Soap&Skin | From Gas to Solid / You Are My Friend | |
2. | Gurrumul | Djarimirri | |
3. | Viagra Boys | Street Worms 4 | |
4. | Lorn | Remnant | |
5. | International Music | Die besten Jahre | |
6. | Earl Sweatshirt | Some Rap Songs | |
7. | Charles Lloyd & The Marvels + Lucinda Williams | Vanished Gardens | |
8. | Insecure Man | Insecure Man | |
9. | Slowthai | Runt | |
10. | Sophie | Oil Of Every Pearl's Un-Insides |

Fat Possum
Thomas Edlinger
1. | Kadhja Bonet | Childqueen | |
2. | Soap and Skin | From Gas to Solid/You Are my Friend | |
3. | Planningtorock | Powerhouse | |
4. | Benjamin Shaw | Megadead | |
5. | International Music | Die besten Jahre | |
6. | Ben La Mar Gay | Downtown Castles Can Never Block The Sun | |
7. | Amnesia Scanner | Annother Life | |
8. | Anna von Hauswolff | Dead Magic | |
9. | Lorn | Remmant | |
10. | DJ Khalab | Black Noise |
Publiziert am 30.12.2018