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Aufgeräumte minimalistische Wohnung

Pixabay / CC0

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ProphetInnen des Minimalismus

Was braucht man, um weniger zu brauchen? Der Wunsch nach weniger Ballast und Kram ist nicht neu. Und auch nicht die Diskussionen um Minimalismus. Doch eines hat sich verändert.

Von Ali Cem Deniz

FM4 Auf Laut – Weniger besitzen, mehr Leben?

Der minimalistische Lebensstil boomt. Es gilt das Versprechen: Wer nur eine Handvoll ausgewählter Gegenstände besitzt, ist glücklicher - und hilft mit, den Planeten zu retten.

Doch geht es bei der Kultur der freiwilligen Selbstbeschränkung tatsächlich um Weltverbesserung? Oder vielmehr um Hipster-Ästhetik und eine neue Form des Leistungssports? Und wer kann sich das leisten?

Anrufen und mitdiskutieren heute ab 21 Uhr in FM4 Auf Laut mit Claudia Unterweger.

Dass es beim Minimalismus um ein möglichst schlichtes Leben geht, würde man auf Youtube nicht vermuten. Eine Armee an prominenten und weniger prominenten Youtubern produziert täglich “Minimalist apartment tours” und “die 10 Dinge, die jeder Minimalist braucht”. Was dabei auffällt: Wie so oft neigt der Youtube-Algorithmus auch hier zu Extremen.

Die Youtuber-MinimalistInnen haben entweder Luxus-Apartments in Manhattan mit skandinavischen Designer-Möbeln oder geben Tipps, wie man sich Essen schnorren kann und erklären, warum es gesünder ist, ohne Bett und Kissen auf dem Boden zu schlafen. Und zwischendurch gibt es auch Videos zum “Geistigen Minimalismus” von Menschen, die diese Spielart des Minimalismus offensichtlich sehr intensiv betreiben.

Konmari im 19.Jahrhundert

Mit Marie Kondos Netflix-Serie ist die Frage, was man braucht und was eigentlich weg kann, im Mainstream angekommen. Der Wunsch nach einem einfacheren Leben mit weniger Kram ist allerdings kein exklusives Phänomen einer überbordenden Konsumkultur. Schon im 19.Jahrhundert hatte Henry David Thoreau mit “Walden” ein Buch über sein Leben als Aussteiger geschrieben und damit einen Nerv getroffen.

Kleider sortiert nach Marie Kondo Methode

Sara KAMOUNI / AFP

In den zwei Jahren, die Thoreau in seiner Hütte am Walden-See verbracht hat, hat er sich, wie die Youtuber von heute, mit nahezu jedem Thema auseinandergesetzt. Das Buch stieß zunächst auf wenig Begeisterung, wurde aber im Laufe des Jahrhunderts immer populärer und löste intensive Debatten aus. Henry David Thoreau wurde zum Propheten des einfachen Lebens.

Er machte sich Gedanken über funktionale Kleidung, Ernährungssouveränität und das Wohnen. Er lobte die simplen Behausungen der Indigenen, die sich den klimatischen Bedingungen anpassen und kritisiert die steigenden Wohnkosten in den modernen Städten, die das monatliche Einkommen ganzer Familien verschlingen und Menschen in die Obdachlosigkeit treiben.

Das klingt, abgesehen von Thoreaus lyrisch-essayistischen Stil, sehr zeitgemäß. Und deshalb zählt “Walden” weiterhin zur Standard-Literatur von MinimalistInnen, UmweltschützerInnen und Neo-LuddistInnen. Dabei ist der Lebensstil, den Thoreau seinerzeit kritisiert hat, aus heutiger Sicht von tiefster Einfachheit geprägt.

Wer kann sich das leisten?

Theorau hatte nicht nur Fans. Einerseits wurde seine Schrift von Fortschrittsgläubigen des 19. Jahrhunderts als eine Verherrlichung eines primitiven, anti-zivilisatorischen Lebens kritisiert. Andererseits wurde ihm Heuchelei vorgeworfen. Thoeraus Hütte war unweit von der nächsten Stadt und stand auf dem Grundstück seines Freunds Ralph Waldo Emerson. Dessen Anwesen war zwei Kilometer entfernt. Die Emersons bekochten Thoreau regelmäßig. Seine schmutzige Wäsche brachte er zu seiner Mutter.
Dass Thoreau selbst das alles nicht verheimlicht, hielt seine KritikerInnen nicht davon ab, über seine Ideen zu spotten.

Die Diskussionen, die Marie Kondo heute auslöst, verlaufen ähnlich. Schon vor ihrer Netflix-Sendung hat sie mit ihrer Konmari-Methode AnhängerInnen gefunden, die mit ihrer “Spark Joy”-Philosophie Kontrolle über ihr Leben und ihre Bedürfnisse gewonnen haben. Gleichzeitig wird Kritik laut, dass das “einfache Leben” nicht für jeden leistbar ist.

In Romper, dem Magazin für “millenial moms”, schreibt Crystal Henry, dass die Konmari-Methode für ärmere Familien kaum umsetzbar sei. In ihren Büchern spricht sich Kondo strikt gegen 2+1 Gratis-Angebote aus und warnt vor Schnäppchen. Ihr Argument: Die Geschäfte würden nur versuchen, wertvolle Lagerfläche zu schaffen.

Kleider sortiert nach Marie Kondo Methode

Sara KAMOUNI / AFP

Wenn man also 20 Sackerl Klopapier in der Abstellkammer stapelt, würde man am Ende nur dem Supermarkt helfen. Doch Mütter, die jeden Cent umdrehen müssen, seien gezwungen, Platz und Ordnung in der Wohnung zu opfern, um Geld zu sparen, so Henry. Nicht passende Kleidung, löchrige Socken und Unterwäsche wegschmeißen sei nur etwas für Privilegierte.

Mehr Minimalismus

Weder die Idee des “einfachen Lebens” ist neu, noch die Diskussionen darüber. Die Argumente haben sich in ihrem Wesen seit “Walden” vor 150 Jahren kaum verändert. Doch eines ist tatsächlich neu: Zum ersten Mal in der Geschichte ist die freiwillige “Selbstbeschränkung” zu einem Produkt geworden. Ganze Marken konzentrieren sich heute auf die vermeintliche Einfachheit ihrer Produkte.

Das sieht man nirgendwo besser als auf Youtube, wo Influencer zwischen ihren Minimalismus-Videos ein Unboxing nach dem anderen machen und für ihre AbonnentInnen exklusive Rabatte versprechen. Der Minimalismus wird nicht weniger werden.

FM4 Auf Laut – Weniger besitzen, mehr Leben?

Der minimalistische Lebensstil boomt. Es gilt das Versprechen: wer nur eine Handvoll ausgewählter Gegenstände besitzt, ist glücklicher - und hilft mit, den Planeten zu retten.

Doch geht es bei der Kultur der freiwilligen Selbstbeschränkung tatsächlich um Weltverbesserung? Oder vielmehr um Hipster-Ästhetik und eine neue Form des Leistungssports? Und wer kann sich das leisten?

Anrufen und mitdiskutieren heute ab 21 Uhr in FM4 Auf Laut mit Claudia Unterweger.

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