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Berit Gilma

Proteste in Serbien: Politische Teilhabe ist hier ein Fremdwort

Autobomben und Schießereien auf offener Straße stehen in Belgrad wieder an der Tagesordnung

Von Marko Dinić

Um die Proteste, die seit Dezember letzten Jahres in über achtzig Städten in Serbien stattfinden, zu verstehen, muss man auf den 25. April 2016 zurückblicken: Damals stürmten in einer Nacht-und-Nebelaktion zwei Dutzend vermummter Personen das in Belgrad sehr beliebte Viertel Savamala, das bekannt ist für seine Vielzahl an Bars, Klubs und Restaurants. Seit geraumer Zeit stand die Räumung einiger Objekte in besagtem Viertel an — sie mussten dem vonseiten der Vereinten Arabischen Emirate teilfinanzierten Mega-Bauprojekt Belgrade Waterfront weichen. Einige Einwohner erhoben gegen die Räumung Einspruch, was jahrelange gerichtliche Prozesse nach sich gezogen hätte.

Marko Dinić

Zsolnay

Marko Dinić wurde 1988 in Wien geboren und verbrachte seine Kindheit und Jugend in Belgrad. Sein Debütroman „Die guten Tage“ ist eine Absage an Balkan-Kitsch und ist 2019 im Wiener Paul Zsolnay Verlag erschienen.

An ebenjenem Apriltag, mit Baseballschlägern bewaffnet sowie mit zwei Baggern im Schlepptau, brechen maskierte Gestalten in das Viertel ein, zerren die Bewohnerinnen und Bewohner auf die Straßen und demolieren innerhalb weniger Stunden mehrere Objekte in der Savamala vollständig. Jegliche Versuche, die Polizei in dieser Nacht zu rufen, scheitern — nur ein kleiner Einblick darin, wie Baupolitik im Speziellen und Politik im Allgemeinen im heutigen Serbien gemacht werden.

Vorprogrammierter Kollaps

Der Aufschrei, der damals durch die Bevölkerung ging, lockte zum ersten Mal seit der Ernennung Aleksandar Vučićs zum Premierminister zehntausende Menschen auf die Straßen Belgrads. Sie protestierten gegen eine seit den revolutionären Umbrüchen am 5. Oktober 2000 anhaltende Vetternpolitik, die die Wirtschaft des Landes an die Wand gefahren und in den letzten Jahren unzählige junge, meist gebildete Menschen aus dem Land gejagt hat. Die Bevölkerung altert rapide, während in wichtigen Berufssparten, wie etwa bei den Fahrern in den Verkehrsbetrieben, keine Leute nachbesetzt werden. Ein vorprogrammierter Kollaps droht.

Gepaart mit einer ebenso seit Jahrzehnten etablierten, nationalistischen Kulturpolitik sowie einer seit den Milošević-Jahren nicht mehr da gewesenen Medienstarre erscheinen alle demokratischen Prozesse und Institutionen wie festgefahren. Die Wendehalspolitik von Aleksandar Vučić, dem Präsident Serbiens, — stets zwischen EU und dem großen vermeintlichen Bruder Russland changierend — erweist sich zunehmend als gefährliches Spiel, dessen Rechnung in den letzten Wochen zu Tragen kommt.

„1 od 5 miliona“

Seit Dezember letzten Jahres versammeln sich wieder tausende Menschen jeden Samstag zum Protest, nun unter dem Motto „1 od 5 miliona“, was frei übersetzt „1 aus 5 Millionen“ bedeutet. Diesem Namen war eine Aussage Aleksandar Vučićs vorausgegangen, in der er abermals bekräftigte, auf die Forderungen der Protestierenden nicht eingehen zu wollen, auch wenn fünf Millionen von ihnen auf die Straße gingen, womit er bei sieben Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern in Serbien de facto die gesamte mündige Bevölkerung meinte.

Demo in Belgrad

Berit Gilma

Korruption, Misswirtschaft, Einparteiensystem, Autoritarismus, Mafiastaat — was wie eine kurze Zusammenfassung der finsteren 90er-Jahre anmutet, beschreibt auf erschreckende Weise die aktuelle politische Situation im heutigen Serbien. Und nicht umsonst fühlen sich viele, die sich an diesem Samstag, dem 13. April, erneut in Belgrad vor dem Parlament zu einem der bisher größten Proteste unter dem Motto „1 aus 5 Millionen“ versammelt haben, an die dunkelste Zeit der jüngeren serbischen Geschichte erinnert: Autobomben und Schießereien auf offener Straße stehen in Belgrad wieder an der Tagesordnung, die hohe Arbeitslosigkeit treibt vor allem junge Männer wieder in die Fänge mafiöser Klanstrukturen.

Und auch kritische Journalistinnen und Journalisten stehen wieder auf der Abschussliste. Ein markantes Beispiel ist etwa Milan Jovanović, ein Lokalreporter des Internetportals Žig Info, dessen Haus mitten in der Nacht von Unbekannten abgefackelt wurde. Während Jovanović und seine Frau durch ein Fenster fliehen konnten, schossen die Angreifer auf die Eingangstür.

System aus Lügen, Korruption und Nepotismus

Man muss kein Feingeist sein, um hinter all diesen Vorfällen einen ungeheuren Missstand in der serbischen Politiklandschaft zu erkennen — Politikerinnen und Politiker, die sich Unwillens zeigen, jeglicher dieser Machenschaften im eigenen Land Einhalt zu gebieten. Auch das ist eine Besonderheit der jetzigen Proteste: Während die Opposition rund um pseudodemokratische und ultra-nationalistische Parteien des Mantras vom Sturz des Präsidenten nicht überdrüssig sind und die Proteste für ihren eigenen Wahlkampf ausnutzen, nehmen lokale Bürgerinitiativen Aleksandar Vučić ins Gebet und verlangen von ihm und seinen Ministern, ihrer Arbeit nachzugehen und das Land auf stabile Beine zu stellen.

Man merkt den Menschen auf der Straße den Ärger und die Müdigkeit an. Die angekündigte demokratische Wende lässt seit nun mehr zwei Jahrzehnten auf sich warten. Teilhabe ist ein Fremdwort in der serbischen Gesellschaft. Und solange sich Politikerinnen und Politiker in diesem Land weiterhin hinter ihrem System aus Lügen, Korruption und Nepotismus verstecken, solange werden die Menschen auf die Straße gehen. Die Proteste bleiben friedlich. Der von der Boulevardpresse angekündigte Bürgerkrieg bleibt aus.

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