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Holzkreuze auf einem Friedhof

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Mark Hillary

Wenn das Leben keinen Nickel wert ist: Colson Whiteheads neuer Roman

Colson Whiteheads letzter Roman „Underground Railroad“, der den Weg einer jungen Sklavin beschreibt, wurde mit dem National Book Award und dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Mit „Die Nickel Boys“ schreibt er über einen weiteren, düsteren Abschnitt amerikanischer Geschichte: Schauplatz ist eine vermeintliche Besserungsanstalt im Florida der 1960er Jahre.

Von Lisa Schneider

Die gruseligsten Filme sind die, bei denen die Tür im Schreckmoment plötzlich zufällt - und man nur erahnen kann, was dahinter passiert. Etwa im 1996 gedrehten Film „Sleepers“, in dem Kevin Bacon den sadistischen Aufseher in einer New Yorker Jugendstrafanstalt spielt.

Bild oben: Wooden crosses in St Pancras & Islington Cemetery (flickr | CC BY 2.0)

Genauso ist es aber auch in der Literatur. Andeutungen sind aufreibender, sind schlimmer als die explizite Beschreibung von Gewalt und Misshandlung. Der amerikanische Schriftsteller Colson Whitehead weiß das. In seinem neuen Roman „Die Nickel Boys“ schreibt er, oder eben nicht, über die Missbrauchsfälle in der „Nickel“-Besserungsanstalt im Florida der 1960er Jahre.

Colson Whitehead hat schon mehrmals Geschichten erzählt, die auf Historischem basieren. Für seinen letzten Roman „Underground Railroad“, der die Reise einer jungen Sklavin beschreibt, hat er die zwei höchsten literarischen Auszeichnungen Amerikas erhalten: den Pulitzer-Preis 2017 und den National Book Award 2016. Die teils an den magischen Realismus, ans Märchenhafte angelehnte Erzählweise legt Colson Whitehead in „Die Nickel Boys“ ab. Er sagt selbst, die Geschichte bestünde „nicht aus Fakten, aber aus der Wahrheit“.

Die Willkür der Justiz

Florida in den 1960er Jahren: Rassentrennung ist Alltag. Der junge Elwood Curtis wächst bei seiner Großmutter auf, nachdem seine Eltern nach Kalifornien abgehauen sind. Er ist klug und großer Fan der Reden Martin Luther Kings. Sein Geschichtelehrer bringt ihm die Bücher James Baldwins nahe. Besagter Lehrer ist Bürgerrechtler: Elwood wächst in einer Generation heran, in der junge Schwarze in Amerika so etwas wie ein Glimmen am Horizont erahnen: Werden die Bürgerproteste etwas erreichen? Wird Elwood sich demnächst einen Platz an der Bar frei aussuchen können?

Colson Whitehead im Wald

Madeline Whitehead

Colson Whitehead

1969 in New York geboren, studierte an der Harvard University und arbeitete für die New York Times, Harper’s und Granta. Er hat außerdem an den renommierten US-amerikanischen Universitäten Princeton, Columbia und Richmond unterrichtet.

Für seinen Roman „Underground Railroad“ wurde er mit dem National Book Award 2016 und dem Pulitzer-Preis 2017 ausgezeichnet. Bei Hanser erschienen bisher John Henry Days (2004), Der Koloss von New York (2005), Apex (2007), Der letzte Sommer auf Long Island (2011), Zone One (2014) und Underground Railroad (2017). Der Autor lebt in Brooklyn.

Elwood bekommt als einer der wenigen schwarzen Schüler einen Platz am Melvin Griggs Technical College zugesagt. Er macht sich per Autostopp auf den Weg, nicht ahnend, dass er in einen gestohlenen Wagen steigt. Bis er angehalten wird. „Dachte ich mir doch gleich, als es hieß, wir sollten auf einen Plymouth achten - den klaut nur ein Nigger“, schmunzelt ihnen der Officer durch die Scheibe entgegen.

Aufgrund dieses Missverständnisses landet Elwood ohne Gerichtsverfahren in der Besserungsanstalt „Nickel“. Die Jim-Crow-Gesetze schrieben noch bis 1964 eine Rassentrennung durch systematische Erniedrigung fest. Es reichten also Vergehen wie die Schule zu schwänzen, herumzustreunen oder weiße Mitbürger*innen anzurempeln aus, um Schwarze, meist Jugendliche, festzunehmen. Die jüngsten „Schüler“ des Nickel, wie sie genannt wurden, waren zu diesem Zeitpunkt fünf Jahre alt.

„Nickel“ heißt diese größte Reformschule der vereinigten Staaten in Colson Whiteheads Roman nach derem fiktiven Gründer - sie hat aber reale Vorbilder. Die „Florida Industrial School“ bestand von 1900 bis 2011. Ihr deklariertes Ziel war es, „junge Straftäter, geschützt vor schlechten Einflüssen, körperlich, geistig und moralisch“ zu ertüchtigen, „um sich zu wandeln und anschließend in die Gesellschaft entlassen zu werden“.

Der zweite Blick zeigt die Realität

Elwood kommt am Gelände an und ist noch immer optimistisch. Man hat ihm gesagt, er könne im Nickel eine fortführende Schulbildung erhalten - außerdem hat seine Großmutter einen Anwalt engagiert, der ihn rausholen soll. Dieser wird mit ihrem Geld verschwinden, aber noch sieht alles nicht so schrecklich aus:

Cover "Die Nickel Boys" von Colson Whitehead

Hanser

„Die Nickel Boys“ von Colson Whitehead erscheint in der Übersetzung von Henning Ahrens im Hanser Verlag.

„Er hatte hohe Steinmauern und Stacheldraht erwartet, aber es gab keine Mauern. Das penibel gepflegte Anstaltsgelände war ein üppiger grüner Garten mit ein paar verstreuten zwei- oder dreigeschossigen Gebäuden aus roten Ziegeln. (...) Elwood hatte noch nie so ein hübsches Anwesen gesehen.“ Der Teufel steckt im Detail, oder vielmehr im „Weißes Haus“ genannten Zubau der Anstalt. Dort werden die Kinder und Jugendlichen nachts missbraucht. Auch Elwood wird schon nach einigen Tagen aus dem Schlaf gerissen und in den sagenumwobenen Raum gebracht. Dort läuft ein überdimensionierter Ventilator auf Hochtouren, um die Schreie der Jungen zu übertönen.

„In der Zelle, in der man die Hiebe verabreichte, erblickte er eine blutige Matratze und ein nacktes Kopfkissen, übersät von den Abdrücken der Zähne, die die Jungs hineingeschlagen hatten.“ Im „Nickel“ sind weiße und schwarze Schüler untergebracht. Tagsüber arbeiten sie in einer Ziegelfabrik, nachts begegnen sie dem willkürlichen Zorn des Aufsichtspersonals. „Nickel-Jungs waren billiger als Amüsierdamen, und boten mehr für’s Geld, hieß es.“

Elwood sitzt zusammen mit etwa 600 anderen Jungen ein. 2009 haben sich erstmals Überlebende der Gruppe zu Wort gemeldet - zwei Jahre bevor die Anstalt offiziell geschlossen wurde. Erst, als Archäologen den geheimen Friedhof „Boot Hill“ am Anstaltsgelände freigelegt haben - an dieser Stelle sollte ein Hotelkomplex entstehen - ist das Ausmaß der Misshandlungen im Nickel offengelegt worden.

Einige Jungs hatten schon vor Jahren auf den geheimen Friedhof aufmerksam gemacht, aber wie üblich, glaubte man ihnen erst, als andere darüber berichteten.

Manche der Gräber sind (wenn auch nur mit Vor-)Namen versehen, die meisten Leichen sind aber anonym verscharrt worden. Ohne Benachrichtigung der verbleibenden Angehörigen - und, wie im Nachhinein festgestellt wurde, in den meisten Fällen mit mehreren Knochenbrüchen oder mit Schrotkugeln im Brustkorb. Die Überreste von drei Mal so vielen schwarzen wie weißen Jungen sind gefunden worden. Als Colson Whiteheads Roman schon fertiggestellt war, wurden heuer im April weitere 27 Leichen entdeckt.

Keine Hoffnung auf ein normales Leben

Im dritten Teil des nur 222 Seiten starken Romans lernen wir Elwood als Erwachsenen kennen. Er lebt mittlerweile in New York und hat sich seine eigene Umzugsfirma aufgebaut. Er hat es geschafft. Oder? Auch hier glitzert das Glück nur an der Oberfläche. Die Gedanken an das Nickel, die Scham, die Ungerechtigkeit und die Erniedrigung wird Elwood nie vergessen. Und schlimmer noch, sie lebt in ihm fort. Er wird seine Firma - wie er später erkennt - unbewusst - „Firma Ace Moving“ nennen. Als „Ace“, also als „Ass“, wurden diejenigen Insassen des Nickel bezeichnet, die kurz vor der Entlassung standen. „Wieder in der freien Welt, um deinen krummen Weg zu gehen.“

Die größte Tragödie im Leben der Nickel-Boys ist, dass ihre Zeit in der Anstalt auch ihr Leben danach prägt: „Ganz allgemein gesagt, waren die Nickel-Jungs vor, während und nach ihrer Zeit in der Anstalt am Arsch“. Und das ist noch salopp formuliert. Ihre Leben sind zerstört worden. Die Maximen, die ihnen antrainiert worden sind, begleiten sie für immer:

Du sollst nicht lieben, denn man wird dich im Stich lassen; du sollst nicht vertrauen, denn man wird dich verraten; du sollst nicht aufbegehren, denn man wird dich Mores lehren.

Auf den letzten Seiten wartet auf die Leser*innen noch eine schreckliche Überraschung.

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