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Jeder Mensch ist eine Insel

„Man kann nie wissen, was andere Menschen denken“: Die norwegische Autorin Line Madsen Simenstad schreibt mit ihrer Kurzgeschichtensammlung „Königin-Maud-Land ist geheim“ schnörkellose Prosa über existenzielle Fragen.

Von Lisa Schneider

Königin-Maude-Land ist ein Teil der Antarktis. Ein unbewohntes Stück Land, das von Norwegen beansprucht wird. Vereist, kalt natürlich, unwohnlich und vielleicht auch gerade deshalb ein bisschen romantisch verklärt. So, wie auch der ins deutsche übersetzte Titel von Line Madsen Simenstads Kurzgeschichtensammlung klingt: „Königin-Maud-Land ist geheim“.

Keine der fünf Kurzgeschichten handelt auf besagter, arktischer Insel. Aber in allen findet man den Wunsch der Protagonist*innen nach einem Rückzugsort - oder umgekehrt das Gefühl, an einem solch geheimen Ort gefangen zu sein.

Zuhause im Gefängnis

In der längsten der fünf Geschichten, die dem Erzählband auch den Titel gibt, erzählt Line Madsen Simenstad von einer Mutter, die mit ihrem fünfjährigen Sohn zusammenlebt. Es ist ein kurzer Einblick in ihrer beider Leben, ein Hineinhuschen in ihren geregelten Alltag, in dem der Sohn offenbar nicht in den Kindergarten geht und die Mutter die meiste Zeit mit ihm zuhause verbringt. Immer nur namenlos als „Mutter“ und „Sohn“ bezeichnet entspinnt sich zwischen den beiden eine ambivalente Beziehung, die von notwendiger Nähe zu passiver Aggressivität schwankt. Ob mit dem kleinen Buben etwas nicht stimmt, wird nicht klar.

Line Madsen Simenstad

Linda B. Engelberth

Line Madsen Simenstad, geboren 1985 in Oslo, ist Journalistin und Mitbegründerin des Berliner Verlags Broken Dimanche Press. Sie lebt mit ihrer Familie in Oslo und hat Kurzgeschichten in zahlreichen skandinavischen Magazinen publiziert.

„Manchmal überkommen die Mutter radikale Gedanken. Ich könnte für den Jungen sterben. Der Junge macht mich verrückt. Wenn er stirbt, kann ich nicht leben. Ohne den Jungen wäre ich glücklich. Die Gedanken rieseln durch die Ritzen des Tages. Die Tage haben jetzt allzu viele Ritzen.“

Es gruselt, ein bisschen. Beunruhigende Spannung. „Die Tage sind ein langes, dünnes Band. Darauf warten, dass etwas haften bleibt“. Der Junge tanzt auf Zehenspitzen durch die beengte Wohnung, die Mutter „erträgt es nicht“: „Sein Blick rinnt wie Wasser am Gehweg entlang nach unten“. Das Zuhause, die ausgewählte Höhle, ist gleichzeitig Sehnsuchtsort und Gefängnis.

Die Geschichte endet abrupt, so wie auch die anderen vier. Line Madsen Simenstad blickt immer nur kurz hinein ins Leben ihrer Protagonist*innen - und das ganz offenbar immer am dramatischsten Zeitpunkt.

Diese schreckliche Familie

Abnormal ist auch Agnes - zumindest wird sie von ihrer Umwelt, allen voran ihrer Schwiegermutter, so eingestuft. Agnes’ Vater, ein notorisch getriebener Esoteriker, tauscht nicht nur Wohnorte, sondern auch Lebenspartnerinnen wie andere die Bettwäsche. Gerade ist es Klara, bei der er mit seiner Tochter lebt. Eine Frau, unerträglich gut:

„Klara ist rein wie eine Schublade mit Leintüchern, man zieht sie ohne Widerstand heraus und lässt den Zeigefinger an dem Wäschestapel entlanggleiten. Klara ist ein straffer Pferdeschwanz ohne ein einziges aufgeladen abstehendes Haare. Dicke, einfarbige Baumwollpullover, ebenmäßige weiße Zähne. Ich bin eine Nicht-Klara.“

Cover "Königin-Maud-Land ist geheim" von Line Madsen Simenstad

Mare

Der Kurzgeschichtenband „Königin-Maud-Land ist geheim“ von Line Madsen Simenstad erscheint im Verlag Mare.

Auch in dieser Erzählung namens „Tschernobyltierchen“ sind die Räume eng, die sozialen Anforderungen unerreichbar hoch und der Wunsch nach Flucht groß. Ähnliche Motive setzen sich auch in den folgenden Geschichten fort: In „Roter Stern“ will die Tochter dem sterbenden Vater entgehen. Sie beschreibt den Prozess des Wartens auf den Tod als gleichzeitig unangenehm und seltsam belanglos.

„Jedes Mal, wenn ich das Zimmer betrete, nehme ich den Geruch wahr, es riecht nach Schweiß, ich kann mir das nicht erklären, er liegt doch nur da. Er folgt mir mit dem Blick, als ich den Raum durchquere, ich atme durch den Mund und setze mich in den grünen Sessel. Ich dachte, der Tod macht einen dünn und bleich, aber er wird immer größer, die narbigen Wangen immer röter.“

Aus dem Sinn

Fluchtgedanken quälen auch die Ich-Erzählerin in der Geschichte „Alles über die Liebe“. Die große Schwester ist am Sprung, sie wird demnächst ausziehen. Die jüngere will mit. Das geht nicht, also gibt es zumindest Teenagerweisheiten als Pfand. Diesmal geht es ums Kopfgefängnis:

„An manchen Tagen denkst du nur negativen Scheiß über dich und die ganze Welt, und dann musst du lernen zu kapieren, dass das eben einer von diesen Tagen ist. Sofort beim Aufstehen! Dann kannst du dir nämlich sagen: Egal was ich heute denke, es stimmt nicht. Und dann kannst du sozusagen den ganzen Tag durchhalten. Verstehst du, was ich meine?“

Lakonisch poetisch: nichts ist überflüssig in Line Madsen Simenstads Geschichten. Kein Wort, schon gar kein Satz - und das, obwohl es um große Themen wie Liebe und Tod, Verlust und Einsamkeit geht. In so straffer, präziser und kluger Weise existenzielle Fragen zu streifen ist manchmal mehr, als versuchte Antworten bereithalten zu können.

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