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Szenenbild The Irishman

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FILM

“The Irishman“: Das neue Meisterwerk von Martin Scorsese

Das überlange Mafiaepos ist ein faszinierender Abgesang auf Gangsterfilme geworden - und auf das Kino selbst. Ebendort wird „The Irishman“ aber nur kurz zu sehen sein.

von Christian Fuchs

Ganz am Anfang dieses Films fährt die Kamera einen Gang in einem Altersheim entlang. Ein 50er-Jahre-Schlager untermalt die Szene. Robert De Niros Stimme ertönt erzählend aus dem Off. Und augenblicklich stellt sich das ganz bestimmte Martin Scorsese Feeling ein.

Grelle Popmusik auf der Tonspur gehört genauso zu diesem Kinogefühl wie die umwerfenden Bildkompositionen oder der rhythmische Schnitt der grandiosen Thelma Schoonmaker. Und natürlich De Niro als schmieriger Gangster, der unnachahmliche Joe Pesci in einer brutalen Nebenrolle, Kinogott Scorsese im Regiestuhl. „Good Fellas“ und „Casino“ heißen die Mafiafilm-Meisterwerke, in denen all diese Elemente und Talente auf magische Weise zusammenkommen. Der letztere Film liegt fast 25 Jahre zurück, seitdem sind alle Beteiligten getrennte Wege gegangen.

Szene aus "The Irishman"

Netflix

Aus dem Leben eines Auftragsmörders

Jetzt ist endlich, nach langen Bemühungen, eine weitere Zusammenarbeit des Regisseurs und seines Stammschauspielers geglückt. Das Ergebnis dieser Kollaboration ist einer der umwerfendsten Filme 2019 geworden – und auch ein Meilenstein innerhalb Martin Scorseses großartiger Karriere. „The Irishman“ folgt dem Leben von Frank Sheeran, lakonisch gespielt von De Niro, einem ehemaligen Weltkriegs-Soldaten, der als LKW-Fahrer arbeitet - und über den Umweg kleinerer Verbrechen zum kaltblütigen Auftragsmörder für die Mafia mutiert.

Erst unlängst verbeugte sich der Comicfilm „Joker“ mit etlichen Zitaten vor dem frühen Schaffen von Kino-Ikone Martin Scorsese. Der mittlerweile 76-jährige US-Regisseur geriet gleichzeitig mit einer Attacke auf die angebliche Banalität von Marvelfilmen in die Schlagzeilen.

Jetzt gibt es aber einen anderen, wichtigeren Grund über Scorsese zu reden. Sein neues Gangsterepos „The Irishman“ kommt kurze Zeit in die Kinos, bevor der Streaming-Anbieter Netflix den Film veröffentlicht. Zuvor waren alle Bemühungen der Produzenten gescheitert, das Epos durch ein konventionelles Hollywood-Studio zu finanzieren.

Scorsese arbeitet aber aber bereits mit seinen Lieblingsstars an seinem nächsten Projekt. Robert De Niro (sein 9. Film mit dem Regisseur) und Leonardo Di Caprio (Zusammenarbeit Nr. 5) werden in „Killers of the Flower Moon“ die Hauptrollen spielen. Wieder geht es um eine wahre Tragödie, diesmal die Ermordung amerikanischer Ureinwohner durch US-Rednecks in den 1920er Jahren.

Sheeran, auf dessen autobiografischen Erinnerungen dieser True-Crime-Film basiert, hatte auch politische Connections. Als enger Freund und Helfer des berüchtigten Gewerkschaftsboss Jimmy Hoffa war er in den späten sechziger Jahren dessen zentraler Verbindungsmann zur Mafia. Martin Scorsese nutzt diesen Aspekt, um sein Mobster-Epos zu einer (un-)heimlichen Geschichte Amerikas zu erweitern. Und zu zeigen, wie die Politik mittels Spendengeldern und Erpressung von eiskalten Gangstern kontrolliert wurde. Al Pacino (in darstellerischer Topform) ist als Hoffa dabei eine Schlüsselfigur.

Zwischen grimmig komischen Kammerspiel-Momenten und aufwändigen Setpieces, lokaler Bandengewalt und Attentaten, die die Welt erschütterten vergehen die monumentalen dreieinhalb Stunden Laufzeit tatsächlich fast wie im Flug. Ausgerechnet Martin Scorsese, der zuletzt das moderne Superheldenkino mit seinen unzähligen computergenerierten Spezialeffekten attackierte, setzt übrigens selber massiv auf digitale Tricks. Allerdings nur um die Altstars De Niro, Pacino und Pesci auf glaubwürdige Weise künstlich zu verjüngen. Der Film springt nämlich auf faszinierende Weise zwischen Zeitebenen hin und her.

Szene aus "The Irishman"

Netflix

Filmischer Schwanengesang fürs Streaming-Zeitalter

An seine legendären Mafiaklassiker knüpft Scorsese nur bedingt an - und auch De Niro, Pacino und besonders Pesci verleihen ihren Figuren subtile Facetten, die man in früheren Werken nicht erwartet hätte. „The Irishman“ verzichtet auf jegliche Glamourisierung des Bösen. Die „ehrenwerte Gesellschaft“ wird als eitler, spießiger und gefühlstoter Männerbund dargestellt, Frauen sind bestenfalls schweigende Randfiguren in diesem Umfeld. Dass sich Anna Paquin nur mit Blicken einen Platz in dieser Testosteron-Hölle erkämpft, spricht für die Schauspielerin.

Wenn die Kamera am Ende erneut den Gang im Altersheim durchschwebt, herrscht Totenstille. Aus den mächtigen Fädenziehern der Unterwelt sind einsame, kranke Greise geworden. „The Irishman“ ist in diesem Sinn auch eine düstere Elegie auf das einstige Schaffen von Scorsese und der mitwirkenden New Hollywood Legenden. Und vielleicht auch ein Abgesang auf eine bestimmte Art von Kino. Die bitterste Ironie: Dass dieser filmische Schwanengesang von Netflix produziert wurde – und nur eine ganz kurze Zeit auf der großen Leinwand zu sehen ist.

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