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Jamel Brinkley

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buch

Unverschämtes Glück

Fehlende Vaterfiguren, Identitätssuche, familiäre Beziehungen, das Bedürfnis nach Geborgenheit und Liebe: In seinen Kurzgeschichten skizziert der New Yorker Autor Jamel Brinkley Lebensrealitäten von Menschen, meist afro-amerikanische Männer, auf der Suche nach sich selbst.

Von Alex „DJ Phekt“ Hertel

Wie wird man ein „Lucky Man“, wenn man kein Vorbild hat, weil die Vaterfigur fehlt? Was bedeutet es, ein verantwortungsvoller, dunkelhäutiger Mann in Brooklyn oder der South Bronx zu sein? Wie wird man glücklich? Wie nähert man sich Frauen? Wie funktionieren Beziehungen? Wie verarbeitet man familiäre Traumata?

Jamel Brinkley widmet sich in seinem vielschichtigen Erzählband „Lucky Man“, so der Titel der englischen Originalausgabe von „Unverschämtes Glück“, diesen und noch mehr Fragen. Brüder, schüchterne Single-Männer, Söhne, Machos, Väter, Freunde... fast immer sind die zentralen Figuren seiner Geschichten Männer auf der Suche nach ihrer eigenen Identität, nach Zuneigung und letztendlich dem persönlichen Glück.

Endlos zufrieden

So heißt eine der Geschichten, in der uns Jamel Brinkley mit nach Brooklyn nimmt und deren zentrale Figuren Cody, Micah und Anthony heißen. Micah ist ein charismatischer, untreuer Frauenheld, der seine Freundin gelegentlich als „a Black Girl named Cody“ bezeichnet. Anthony lebt mit Cody in einer WG und entwickelt mit der Zeit Gefühle für sie.

„Von Kindesbeinen an haben Männer wie Micah mich fasziniert. Sie kleiden sich auf eine Art, die lachhaft sein müsste – hohe oder breite Hüte, Hemdkragen mit der Spannweite von Kondorflügeln, vor Schmuck funkelnde Finger, Hosen und Schuhe in himmelschreienden Farben -, aber keiner lacht sie aus, weil sie ständig Frauen abschleppen. Irgendwas in mir wollte wie diese Männer sein, die wir salopp „Pimps“ nannten.“

Der schüchterne Anthony ist kein Pimp. Micah, zu dessen Aufrissmasche unter anderem ein fake jamaikanischer Akzent gehört (er liebt Reggae-Musik), bringt Anthony in eine emotionale Zwickmühle. Einerseits fasziniert von dessen Verführungskünsten und einnehmender Persönlichkeit, hadert er damit, seiner zur Familie nach Ghana verreisten WG-Kollegin nach deren Rückkehr die Wahrheit über ihren (und auch seinen) untreuen Freund zu erzählen und offen seine Liebe zu gestehen.

„Reggae war ein wesentlicher Teil dessen, wie Micah die Synkopen seines Herzschlags darbot. Die Texte drehten sich alle um Kaiser Haile Selassie, Spiritualität und den lebenslangen Widerstand gegen Rassismus und Unterdrückung. Ich horchte nach den anderen Motiven, wie Verrat und Treulosigkeit. Der so banalen und unrühmlichen Unterdrückung im täglichen Leben.“

Die dicke Rhonda

Ein Klassentreffen in der South Bronx. Überraschend für alle taucht nach Dekaden zum ersten Mal Rhonda, die von allen Fat Rhonda genannt und immer gemobbt wurde, zum Treffen in einem Klubraum auf.

Buch Cover "Unverschämtes Glück" von Jamel Brinkley

Kein & Aber Verlag

„Unverschämtes Glück“ erscheint in der deutschen Übersetzung von Uda Strätling bei Kein & Aber (336 Seiten)

„Man durfte sich mit gar nichts aufhalten: Hoffnung, Liebe, Glaube. Nur, weshalb war sie zurückgekehrt? Das fragte sie sich schon. Vielleicht war es dies: dass man nie wissen konnte, ob nicht etwas seine Macht über einen verloren hatte, wenn man immer nur davor davonlief.“

Rhonda ist eine der wenigen weiblichen Hauptfiguren in „Unverschämtes Glück“ und kommt wie fast alle Protagonisten im Buch aus schwierigen familiären Verhältnissen. Die Mutter ist schwer krank und auf die Hilfe ihrer überforderten Tochter angewiesen. In zwei Erzählsträngen verwebt Jamel Brinkley das Leben der jungen Rhonda mit dem Abend des Klassentreffens viele Jahre später.

Wolf, der alternde ehemalige Macho des Jahrgangs, der einst aus Spaß einmaligen Sex in einer Kirche mit ihr hatte, interpretiert rückblickend mehr in dieses Ereignis als Rhonda, die sich weigert, seine verzweifelten Fragen zu beantworten.

„Sie öffnete sich, kurzzeitig nur, dem Mann, der der Junge gewesen war, an den zu erinnern sie sich weigerte, lauschte seinen endlosen Reden über einen fernen Tag, ein gewichtloses Stäubchen Zeit.“

Hinter den Fassaden einer Stadt

„Unverschämtes Glück“ wurde für den National Book Award nominiert. Jamel Brinkley, der als markante neue Stimme der amerikanischen Literatur gilt, nimmt seine Leserinnen und Leser mit in ein New York fernab von touristischen Hotspots und Sehenswürdigkeiten. Man streift in seinen Kurzgeschichten durch die Gassen von Vierteln wie Bed-Stuy, betritt von der Sommerhitze aufgewärmte Backsteinbauten, fährt mit verwahrlosten, nach Urin stinkenden Fahrstühlen hoch in den 10. Stock so genannter „Housing Projects“ in der Bronx und betritt Bars, die unter der Gentrifizierung der Stadt leiden und deren Stammpublikum von jungen Studenten aus wohlhabenden Verhältnissen verdrängt wird.

„Sie bestellte drei mexikanische Bier. Neun Dollar, sagte Sharod. Im Ernst? Neun Dollar. In ihrem Erstaunen über die niedrigen Preise bemerkte die junge Weiße nicht, wie fest Sharod die Flaschen auf den Tresen knallte.“

Als Leser ist man oft hin- und hergerissen, wie man sich gegenüber einzelnen Charakteren emotional positionieren soll. Der Grad zwischen Sympathie, Zuneigung, Mitleid oder Ablehnung ist oft schmal und verschwimmt.
Dabei ist es erstaunlich, wie wenige Seiten Jamel Brinkley benötigt, um gefühlt komplexe Lebensrealitäten zu erschaffen und zwischenmenschliche Beziehungen zu erzählen.

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