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Erschütternde Bilder aus dem Flüchtlingslager Vucjak

Hasan Mahir

Das Flüchtlingslager Vučjak: „Die Schande Europas“

Das umstrittene Flüchtlingslager Vučjak im Nordwesten von Bosnien und Herzegowina ist in einem katastrophalen Zustand. Jetzt bricht der Winter über das Lager herein und es droht eine humanitäre Katastrophe.

Von David Riegler

Radio Spezialstunde
Am Montag, 9.12., senden wir in der FM4 Homebase ab 20.00 Uhr eine Spezialstunde über das Flüchtlingslager Vučjak.

Am ersten Adventsonntag bildet sich eine lange Schlange im Flüchtlingslager Vučjak, im Nordwesten von Bosnien und Herzegowina. Das Rote Kreuz und freiwillige Helfer*innen haben beim Eingang einen Stand mit Hilfslieferungen aus Österreich aufgebaut. Das Ende der Schlange ist nicht in Sichtweite.

Etwa 800 Männer und Buben befinden sind an diesem Tag in Vučjak. Die Zahl ändert sich täglich, denn immer wieder versuchen die Menschen, den katastrophalen Zuständen im Lager zu entfliehen und über die Grenze in die EU zu kommen. Nach Vučjak werden ausschließlich Männer gebracht, Frauen werden in einem anderen Flüchtlingslager untergebracht, das näher zur Stadt Bihać liegt.

Erschütternde Bilder aus dem Flüchtlingslager Vucjak

Ben Owen-Browne

Die Situation hat sich drastisch verschlechtert

Fünf Männer aus Afghanistan haben sich extra früh angestellt, um sicher eine Decke und Kleidung zu bekommen. Besonders die Schuhe sind wichtig, denn viele stehen in Badeschlapfen oder kaputten Schuhen im kalten Schlamm. Nachdem alle fünf Männer ein Paar Schuhe bekommen haben, stellen sie sich gemeinsam neben den Stand vom Roten Kreuz und beginnen zu singen. „It is an Afghani song and it is about being happy. Here we are unhappy but at least in the song we are happy”, erklärt mir Mohammad, der seit drei Monaten in Vučjak lebt. Er erzählt, dass sie jeden Abend gemeinsam singen, um sich von den Zuständen rund um sie herum abzulenken.

Ende Oktober hat der Journalist Muhamed Beganovic für FM4 aus Vučjak berichtet. Er schreibt über den desolaten Zustand des Lagers mit Zelten, die aufgerissen sind, und über eine ständige Wasserknappheit. Seitdem hat sich die Situation noch drastisch verschlechtert. Wir besuchen das Lager am ersten Adventsonntag, der Regen hat sich gerade wieder verzogen und den Boden aufgeweicht zurückgelassen. Die Zelte sind im Schlamm eingesunken und die Kleidung der Menschen ist durchnässt.

Erschütternde Bilder aus dem Flüchtlingslager Vucjak

Ben Owen-Browne

Keine Toiletten, unbeheizte Zelte und Wasserknappheit

Der Zustand des Lagers auf der ehemaligen Müllhalde Vučjak ist katastrophal. Die Menschen schlafen in kaputten, unbeheizten Zelten, die direkt auf dem kalten, schlammigen Boden aufgestellt wurden. Die wenigen Sanitäranlagen sind kaputt oder eingefroren. Eine funktionierende Toilette gibt es nicht, die Menschen müssen dafür in den umliegenden Wald gehen, doch das Gebiet rund um das Flüchtlingslager ist verseucht mit Landminen aus dem Bosnienkrieg. Ein Mann aus Pakistan erzählt mir, dass er sich 20 Tage nicht duschen konnte, weil es kaum genug Wasser zu trinken gebe, geschweige denn, um sich zu waschen.

Die mangelnde Hygiene und die undichten Zelte machen es Krankheiten einfach, sich auszubreiten. Shabir, ein Mann aus der umkämpften Kashmir-Region, sagt, dass viele im Lager nicht schlafen können, weil es sie am ganzen Körper stark jucken würde. Was Shabir beschreibt, ist ein typisches Anzeichen der Krätze, die im Flüchtlingslager Vučjak ausgebrochen ist.

Neben den körperlichen Beschwerden leiden viele Menschen hier unter den Folgen der Traumatisierung durch die schrecklichen Erlebnisse in ihren Heimatländern. Shabir erzählt, dass er eine gute Ausbildung genossen hat und in seiner Heimat Schiffsingenieur war. Doch im bewaffneten Konflikt um die Kashmir-Region zwischen Pakistan und Indien wurden mehrere Mitglieder seiner Familie getötet.

Erschütternde Bilder aus dem Flüchtlingslager Vucjak

Lena Reiner

Manche Menschen wurden in ihren Heimatländern verfolgt, weil sie einer Minderheit angehören, so auch Ahmed, ein junger Mann aus dem Iran. Als Christ hat er es besonders schwer, denn er wurde in seinem Heimatland verfolgt und ist auch hier in Vučjak ein Außenseiter. Er erzählt, dass die anderen Männer im Camp ihn hassen würden. Ohne psychologische Betreuung und Sozialarbeit sind die Menschen hier völlig sich selbst überlassen. Zusätzlich dazu haben viele Menschen Verletzungen von ihren vergeblichen Versuchen, über die Grenze nach Kroatien und in die EU zu gelangen.

Die gefährliche Flucht über die Grenze

Erschütternde Bilder aus dem Flüchtlingslager Vucjak

Anonyme Quelle

„The Game“ nennen es die Menschen, wenn jemand versucht, über die Grenze in die EU zu kommen. Ahmed, ein junger Mann aus Afghanistan, hat es bereits fünfmal versucht - und wurde jedes Mal von der kroatischen Polizei aufgegriffen. Er zeigt mir eine längliche Wunde an seinen Beinen und erzählt, die Polizei habe ihm seine persönlichen Gegenstände und Schuhe weggenommen und ihn mit einem großen Stock geschlagen. Ähnlich ist es dem Mann auf dem nebenstehenden Foto gegangen. Auch er erzählt, dass die kroatische Polizei ihm die Platzwunde mit einem Schlag auf den Kopf zugefügt habe.

Es gibt zahlreiche Berichte, laut denen die kroatische Polizei illegalerweise Menschen ohne Überprüfung und ohne Einleitung eines Asylverfahrens nach Bosnien und Herzegowina bringe. Letzte Woche schrieb die bosnische Zeitung Žurnal von zwei nigerianischen Tischtennisspielern, die von Polizisten in ein bosnisches Flüchtlingslager gebracht wurden, obwohl die beiden Männer sich für ein Turnier legal in Kroatien aufhielten.

Abia Uchenna Alexandro und Eboh Kenneth Chinedu sind mit dem Flugzeug nach Zagreb gereist, um dort an dem Turnier teilzunehmen. Bei einem Spaziergang in der Stadt wurden sie von der Polizei nach ihren Dokumenten gefragt, sie hatten ihre Visa jedoch im Hostel liegen lassen. Die beiden Männer geben an, dass sie von der kroatischen Polizei geschlagen und bedroht wurden. Danach hat man sie nach Bosnien gebracht, wo sie noch nie zuvor gewesen waren. Nach einigen Tagen in dem Flüchtlingscamp gelang es den freiwilligen Helfer*innen, den Veranstalter des Tischtennisturniers zu kontaktieren. So konnten die beiden Männer Bosnien und Herzegowina wieder verlassen.

Politischer Stillstand

„Vučjak muss geschlossen werden“, sind sich die EU, die bosnische Regierung und der Bürgermeister der acht Kilometer entfernten Stadt Bihać einig. Eigentlich war das Flüchtlingslager in Vučjak nur eine provisorische Übergangslösung, da die anderen Unterbringungsorte in der Region schon voll waren und der Bürgermeister Šuhret Fazlić sich weigerte, mehr als 3.000 Menschen aufzunehmen. Er fühlt sich mit der Situation alleine gelassen: „Das ist ein sehr komplexes Problem und man sollte eigentlich erwarten, dass die Europäische Union, die Agentur der UN, internationale Organisationen und der Staat Bosnien Herzegowina mehr Verantwortung übernehmen und nicht alles auf dem Rücken der Stadt Bihać austragen.“

Doch niemand scheint sich für die Menschen in Vučjak verantwortlich zu fühlen. Die Europäische Union forderte Ende November die sofortige Schließung des Lagers, nach einem viertägigen Besuch einer EU-Kommission, doch wohin die Menschen gebracht werden sollen, weiß niemand. Der Bürgermeister der Stadt Bihać macht die Europäische Union mitverantwortlich für der Situation: „Das Problem muss man mit Kroatien lösen. Es ist scheinheilig, der Stadt Bihać moralische Vorwürfe zu machen, obwohl die Europäische Union eine Schutzgarde geschaffen hat mit der kroatischen Polizei, die hier jegliche menschenrechtliche Konventionen mit Füßen tritt.“

Nur vereinzelt haben sich europäische Politiker*innen auf den Weg nach Bosnien und Herzegowina gemacht, um sich selbst ein Bild vor Ort zu machen, zum Beispiel die österreichische Nationalratsabgeordnete Nurten Yilmaz (SPÖ). Die Europäische Union sieht den Staat Bosnien und Herzegowina in der Verantwortung.

Nurten Yilmaz mit Bürgermeister Šuhret Fazlić

Ben Owen-Browne

Nurten Yilmaz mit Bürgermeister Šuhret Fazlić

Die Regierung von Bosnien und Herzegowina hat lange zugesehen, ohne zu handeln. Nach dem anhaltenden politischen und medialen Druck hat der bosnische Sicherheitsminister Dragan Mektic angekündigt, die Flüchtlinge innerhalb von 20 Tagen in die ehemalige Kaserne Blazuj bei Sarajevo zu bringen, doch viele Flüchtlinge und Migranten möchten nahe der Grenze bleiben, denn ihr Ziel ist es, in die EU zu kommen. Genau das möchten die politisch rechten Kräfte in Europa um jeden Preis verhindern.

Auch die FPÖ war vor Ort

Die FPÖ hat am 5. Dezember ein Video auf dem Youtube-Kanal „FPÖ TV“ mit dem Titel „Die Balkanroute ist sperrangelweit offen!“ veröffentlicht. Das Video hat mittlerweile knapp 20.000 Aufrufe und über 200 Kommentare, die zum Teil massiv fremdenfeindlich sind. Der User „Claudio Surland“ schreibt: „’Junge Männer’, gell? GUTE NACHT, EUROPA!! Wenn sie keinen kalten Popo kriegen wollen: Ab in die wohldurchsonnte Heimat, wo fünfmal täglich der Muezzin vom Minaretterl jodelt - und’s sicher jede Menge anzupacken gibt ...! Net woahr?“

Die Fotos aus dem Video wurden von FPÖ-Kärnten-Landesparteiobmann Gernot Darmann und dem wegen Untreue und Vorteilsnahme rechtskräftig verurteilten Gerhard Dörfler aufgenommen, die selbst vor Ort waren. Ein Bild zeigt eine Ladestation für Handys. Was in dem Video verschwiegen wird, ist, dass die Menschen in Vučjak zusammengelegt haben, um sich einen Generator zu kaufen, weil sie dort keinen Strom zur Verfügung gestellt bekommen. Außerdem sieht man ein Bild von einem Mann mit einer Wahlwerbemütze, auf der steht: „Van der Bellen wählen.“ Die FPÖ sieht darin ein Zeichen dafür, dass Van der Bellen ein politischer Hoffnungsträger für die Flüchtlinge sei - doch die alte Wahlwerbemütze war eine Spende aus Österreich, die von freiwilligen Helfer*innen an dem gleichen ersten Adventsonntag verteilt wurde, an dem auch ich vor Ort war.

Hilfe kommt von den Freiwilligen

Am 14. und 17. Dezember gibt es wieder zwei Annahmetermine für Spenden. Gesucht wird vor allem Männerkleidung. Alle Infos stehen hier.

Die Hilfslieferungen aus Österreich wurden von Hilfsorganisationen und freiwilligen Helfer*innen organisiert. Vereine wie „We help“ oder „SOS Balkanroute“ haben in Österreich zu Spenden aufgerufen und Kleidung, Decken und Schlafsäcke nach Bosnien und Herzegowina gebracht. Insgesamt vier LKW-Ladungen sind bei der letzten Hilfslieferung zusammengekommen. Einer der Organisator*innen, der von Anfang an dabei war, war der Wiener Rapper Kid Pex. Er ist enttäuscht, dass sich die Situation seit Monaten nicht verändert: „Wenn du das verteilst, bist du einerseits glücklich, dass du diesen Leuten hilfst, andererseits bist du schwer enttäuscht und siehst das ganze Elend und die ganze Not. Das hier ist kein Camp, sondern das Elend und die Schande Europas.“

Flüchtlingshelferin Zemira im Flüchtlingslager Vucjak

Ben Owen-Browne

Flüchtlingshelferin Zemira

Auch vor Ort gibt es viele Freiwillige, die versuchen, den Menschen zu helfen, zum Beispiel Zemira, die „Flüchtlingsmama“ der Region. Sie hat eine Hilfsorganisation gegründet und ist jeden Tag unterwegs, um nach Flüchtlingen zu sehen, die sich außerhalb der Flüchtlingslager aufhalten.

In alten Lagerhallen oder Ruinen verstecken sich Menschen vor der Polizei, denn sie möchten nicht wieder in das Lager zurückgebracht werden. Zemira erzählt, dass sie wegen ihrer Flüchtlingshilfe regelmäßig angefeindet wird. Es ging sogar so weit, dass ihre Familie sie gebeten hat, die Flüchtlingsarbeit zu beenden, doch sie lässt sich von den zahlreichen Einschüchterungsversuchen nicht beeindrucken.

Zemira erklärt mir, dass es am Anfang viel Zuspruch und Solidarität für ihre Arbeit gab, denn durch den Bosnienkrieg haben viele Menschen in der Region am eigenen Leib erlebt, was es heißt, unter Kälte und Hunger zu leiden. Doch nachdem monatelang nichts passiert ist und die Menschen sich selbst überlassen wurden, ist die Stimmung gekippt.

Der Schnee bedeckt das Flüchtlingslager

Seit der letzten Woche schneit es in Vučjak und das Flüchtlingslager steht kurz vor einer humanitären Katastrophe. Freiwillige vor Ort berichten, dass bereits einige Zelte unter dem Schnee eingebrochen sind.

Wenn nicht bald gehandelt wird, kann die Situation für die Menschen in Vučjak lebensgefährlich sein. Das wissen auch die Menschen vor Ort. Shabir öffnet seine Jacke und demonstriert, wie er sich gegen die Kälte schützt. Er trägt seine gesamte Kleidung am Leib: eine Jacke, zwei Pullover und drei T-Shirts. Er weiß, dass der Winter in den maroden Zelten hart für die Menschen hier werden kann: „The tents are not good, the tents are broken. And when the winter season is coming, it is going to be a very crucial time for us.”

Erschütternde Bilder aus dem Flüchtlingslager Vucjak

Lena Reiner

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