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„Rote Kreuze“ behandelt die Gedenkkultur des Schweigens

Minsk, Anfang der 2000er. Am ersten Tag in seiner neuen Wohnung lernt Alexander seine Nachbarin, die 90-jährige Tatjana kennen. Sie hat Alzheimer im Anfangsstadium und will ihre Lebensgeschichte loswerden. Tatjana erzählt von Diplomatie, Straflagern und Ungewissheit in der Sowjetunion. Autor Sasha Filipenko zeigt anhand von authentischen Dokumenten Fehler der Vergangenheit auf.

Von Lena Raffetseder

„Ich würde Ihnen gern eine unglaubliche Geschichte erzählen. Eigentlich keine Geschichte, sondern eine Biographie der Angst. Ich möchte Ihnen erzählen, wie das Grauen einen Menschen unvermittelt packt und sein Leben verändert.“

So beginnt Tatjana ihre Erzählung. Als Jugendliche hat sie eine gute Schule besucht, verschiedene Sprachen gelernt. Deshalb arbeitet sie ab den 30er Jahren im Volkskommissariat für auswärtige Angelegenheiten, dem Außenministerium der UdSSR. Täglich übersetzt sie Telegramme, Briefe, sonstige Schreiben und erlebt so die Bürokratie des Krieges.

Authentische Briefe aus Genf

Die Dokumente, die in „Rote Kreuze“ immer wieder zitiert werden, sind echt. Ein Archivar hat Autor Sasha Filipenko auf die vielen schwer zugänglichen Dokumente aufmerksam gemacht. Filipenko interessierte sich vor allem für die Schreiben, die von dem Roten Kreuz aus Genf an die Sowjetunion gingen, nur: In Russland hatte Filipenko keinen Zugriff auf die Dokumente. Erst in Genf konnte er in den Archiven des Roten Kreuzes den Schriftverkehr mit der Sowjetunion nachzeichnen.

"Rote Kreuze" Roman Cover

Diogenes Verlag

„Rote Kreuze“ (288 S.) von Sasha Filipenko ist im Februar auf Deutsch bei Diogenes erschienen. Übersetzt hat den Roman Ruth Altenhofer.

Viele Schreiben vom Roten Kreuz an die UdSSR blieben damals unbeantwortet. Das Rote Kreuz versuchte immer wieder, einen Austausch von Kriegsgefangenen zu organisieren, aber ohne Erfolg. Tatjana sieht auf allen Briefen den Vermerk „nicht antworten.“ Denn die Führung der UdSSR hatte kein Interesse an einem Gefangenenaustausch. Kriegsgefangene galten in der UdSSR als Volksverräter. Und so weiß Tatjana, was ihr bevorsteht, als sie den Namen ihres Mannes in einer Liste von Kriegsgefangenen findet. Als Frau eines „Volksfeindes“ ist sie zehn Jahre im Lager.

Das Regime gibt keine Antwort

Nach dem Lager macht sie sich auf die Suche nach ihren Familienmitgliedern. Denn der Staat hält es nicht für notwendig, Menschen über das Schicksal der Verwandten zu informieren und hört auch nicht auf, Waisen zu produzieren. Tatjanas Biographie ähnelt vielen anderen in der Sowjetunion. Gleichzeitig merkt sie, dass es nicht alle so hart getroffen hat. Die Frage nach dem „Warum“ beschäftigt sie, aber im Regime ist es schwierig, Antworten zu bekommen.

„Der Staat mit seinen schrecklichen Geheimnissen. Die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, in Wirklichkeit nur von schrecklichen Geheimnissen zusammengehalten. Das Grauen des Ungesagten, eine Gedenkkultur des Schweigens.“

„Gott will, dass ich alles vergesse“

Gott hätte Angst vor ihr, ist sich Tatjana sicher. Deshalb hat er ihr Alzheimer geschickt, damit sie alles vergisst und sie Gott zu ihrem Tod nicht mit den Grausamkeiten konfrontieren kann. Der weißrussische Autor Sasha Filipenko will dazu beitragen, dass Erinnerungen an die sowjetische Vergangenheit nicht ausgelöscht werden. Versinnbildlicht durch die 90-jährige Tatjana, die kein reales Vorbild hat, sondern für viele Frauen in der Sowjetunion steht. Nachbar Alexander holt den Roman in die Gegenwart. Er ist aber nicht nur Publikum, auch er hat Schreckliches erlebt.

„Rote Kreuze“ ist ein Roman, der nicht nur eine Geschichte erzählt, sondern Geschichte erzählt. Die der Lager, des Gehorsams, des Erinnerns und des Vergessens. Von Einzelnen und einer ganzen Gesellschaft. Nüchtern aber spannend erzählt Sasha Filipenko durch die Augen dieser alten Frau die Geschichte vom Anfang bis zum Ende der Sowjetunion - und darüber hinaus.

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