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Valerie Fritsch: Wenn Schuld und Schmerz vererbt werden

Valerie Fritsch setzt sich in ihrem neuen Roman mit der Natur des Schmerzes auseinander und lässt ihre Protagonistin die Schuld der vorangegangenen Generationen spüren.

Von David Riegler

Valerie Fritsch hat sich fünf Jahre Zeit genommen seit ihrem letzten Roman „Winters Garten“ und ihrer Lesung beim Ingeborg-Bachmann-Preis mit dem Text „Das Bein“. Die Zeit hat sie genutzt, um zu reisen und ihrer Leidenschaft, der Fotografie, nachzugehen. Jetzt hat sie ihren dritten Roman veröffentlicht, „Herzklappen von Johnson & Johnson“, in dem die mehrfach ausgezeichnete Autorin die Natur des Schmerzes und der Verheilung erkundet.

Eine Familie, die schweigt

Die Familie, in die Alma hineingeboren wird, verbindet ein Schweigen, das jedes Mal ausbricht, wenn Alma eine Frage mit kindlicher Ehrlichkeit stellt. In dieser Familie sollen die Kinder zu „vorsichtigen, stillen Wesen“ herangezogen werden.

Es war, als hätten alle Menschen in Almas Leben etwas zu verbergen, die Eltern und die Großeltern, deren Verhältnis untereinander und zur Welt so gespannt war, dass man es gerade noch ertrug.

Wortlaut 2020

Valerie Fritsch hat 2010 beim FM4 Wortlaut-Wettbewerb mitgemacht und den dritten Platz belegt. Für Wortlaut 2020 zum Thema „Kontakt“ können noch bis 24. Mai Geschichten eingereicht werden. Hier findest du Infos und FAQs.

Doch Alma spürt die beklemmende Traurigkeit, die in der Luft liegt, deutlich und versucht vergeblich das Schweigen mit ihrem Jähzorn zu brechen. Bei Brettspielen betrügt sie, wird plötzlich wütend und geht schlafen mit geballten Fäusten. Es ist nicht der Großvater, welcher die Kälte des Krieges noch immer in seinen Knochen spürt, der das Schweigen bricht, sondern die Großmutter. Jahre später, als Alma schon erwachsen ist, beginnt die bettlägrige Großmutter die dunkle Geschichte der Vergangenheit auszurollen.

„Sie ließ den Großvater für Alma noch einmal sein ganzes Leben durchlaufen, machte ihn der Reihe nach zum Säugling, zum Buben, zum Soldaten, zum Mörder, den auch die Befehle, die er befolgt haben mochte, nicht vor diesem Urteil bewahrten.“ Für Alma sind diese Informationen eine erste Erklärung für den Schmerz und die Schuld, die sie in sich spürt und für die sie bisher keinen Grund finden konnte. Es dauert vier Generationen, bis der Schmerz aus der Familiengeschichte verschwindet. Alma bekommt mit ihrem Partner Friedrich einen Sohn, der den Schmerz nie kennenlernen wird.

Pathologisch unempfindlich

Ihr Sohn Emil kann durch einen Gendefekt keine Schmerzen empfinden. Er muss lernen, was der für ihn abstrakte Schmerz bedeutet, den alle anderen empfinden können. Diesen Prozess beschreibt Valerie Fritsch mit den für sie typischen Aufzählungen. Emil verletzt sich an beinahe jeder Stelle seines Körpers, was nicht selten mit einem eingegipsten Bein oder einer genähten Wunde endet.

Buchcover

Suhrkamp

Das Buch „Herzklappen von Johnson & Johnson“ von Valerie Fritsch ist im Suhrkamp-Verlag erschienen.

„So musste Emil immer aufs Neue daran erinnert werden, dass man zu Weihnachten das heiße Backblech mit den Zimtsternen und Husarenkrapfen nicht mit bloßen Händen aus dem Ofen zog und dass man Minuten hungrig vor einer dampfenden Suppe sitzen musste, bis man sie essen durfte. Dass man sich nur mit lauem Wasser wusch, nicht zu heiß und nicht zu kalt. Dass man, fiel etwas aus Versehen in ein offenes Feuer, nicht die Arme tief hinein in die Flammen streckte, um es zu retten.“

Valerie Fritsch erzählt die Geschichte des Schmerzes und dessen Abwesenheit zart und in präzisen Bildern, die die Schuld der älteren Generation mit den Folgen für die jüngere geschickt verknüpft. Es ist eine Auseinandersetzung mit der dunklen Wolke, die seit vielen Jahren über der Familie schwebt. Nicht nur Emil, sondern die gesamte Familie lernen, was es heißt, Schmerz zu empfinden.

„Wie brachte man jemandem Schmerz bei, wie erklärte man ein Gefühl, das nicht erfahrbar war, wie beschrieb man ein Weh, das immer ausblieb. Was war Fleisch, ohne die fundamentale Fähigkeit zu leiden.“

Aber auch Emils Schmerzlosigkeit ist kein Abschluss der traumatischen Kriegsgeschichte, sondern eher deren Verwandlung und ein lebendiges Gegenstück zum Schweigen des Großvaters. „Herzklappen von Johnson & Johnson“ wird im letzten Teil zu einem Reiseroman, denn um die Geschichte endlich hinter sich zu lassen, beschließt Alma mit ihrem Partner und ihrem Sohn eine Reise nach Kasachstan anzutreten, wo ihr Großvater im Kriegsgefangenenlager war.

Ein österreichisches Thema mit neuem Zugang

Das Thema des Romans ist nicht untypisch für die österreichische Familienromane der letzten Jahre, denn die Frage, wie man mit der geerbten Schuld aus der Zeit des Nationalsozialismus umgeht, wird immer wieder gestellt. Doch Valerie Fritsch hat eine ungewöhnliche Zugangsweise zu diesem Thema gewählt.

Der Erzählstil der Autorin ist dabei klar und lakonisch, ihre Bilder sind gewaltig und der Schmerz ihrer Protagonistin spürbar echt. Der Roman ist ein Genre-Hybrid und wird mit der Zeit immer mehr zum Theaterstück, Reiseroman und Familiendrama. Manche Stellen bieten eine Oase der Wärme inmitten der kalten, schmerzhaften Episoden. In der Beschreibung der Bilder spürt man, dass Valerie Fritsch auch Fotografin ist. Die Fahrt von Graz nach Kasachstan hat sie übrigens selbst zurückgelegt.

„Einmal stießen sie auf einen Friedhof, der so weit in die Stadt hineingewachsen war, dass die Gräber schon zwischen den Häusern und den nachlässig gespannten Wäscheleinen lagen, übersät mit verblühtem Löwenzahn, dessen Samen im Wind in alle Richtungen über die Inschriften zerstob.“

Die Fahrt nach Kasachstan ist sowohl für Alma als auch für die Leser*innen heilsam und der innere Schmerz verschwindet nach und nach. Valerie Fritsch ist ein Roman gelungen, der in mehrfacher Hinsicht heraussticht. Die kunstvolle Sprache und die präzisen Beschreibungen treffen auf eine sensible Auseinandersetzung mit dem lebendigen Hier und Jetzt, statt dass die Kriegserzählung in der dunklen Vergangenheit steckenbleibt. Ihr Motto: „Kein Wort zu viel, kein Wort zu wenig.“ Dabei hat Valerie Fritsch keine Angst vor Pathos.

Mehr von Valerie Fritsch kann man derzeit in den „Corona-Tagebüchern“ lesen, die jeden Freitag veröffentlicht werden und bei denen sie neben vielen anderen Autor*innen mitschreibt. Zu finden auf der Website des Literaturhaus Graz.

Wer von der neuen österreichischen Literatur angezogen wird und keine Angst davor hat, den Schmerz der Figuren in aller Authentizität zu erleben, ist mit dem Roman „Herzklappen von Johnson & Johnson“ ein wundervoll feinfühliger Blick in eine durchwachsene Familiengeschichte garantiert. Am Ende des Buches wartet eine Belohnung in Form einer Erscheinung und ein Lachen, das mit den langen Episoden des Schmerzes versöhnt.

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