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Adrianne Lenker

Genesis Báez

Neues Album der Big Thiefs Sängerin Adrianne Lenker

Eine Waldklause, eine Gitarre, eine Stimme. Adrianne Lenker hat mit „Songs And Instrumentals“ einen Liederzyklus über das Werden und Vergehen der Liebe und des Lebens geschrieben. Zombies, Zigarettenstummeln und Wildschädel kommen auch vor.

Von Christian Lehner

Walther von der Vogelweide hat es getan, Bob Dylan hat es getan, Adrianne Lenker tut es. Die Erzählung vom Musiker als Wandervogel ist eine der ältesten der Folk-Geschichte. Henry David Thoreau hat es getan, Justin Vernon hat es getan, Adrianne Lenker tut es. Die Erzählung vom einsamen Poeten in der Waldklause ist eine der ältesten der Dichtkunst. In Adrianne Lenkers neuem Album „Songs And Instrumentals“ laufen diese Mythen nun zusammen, wie die zwei Welten bei der letzten Staffel von Dark und das geht so:

Als ich Adrianne Lenker Anfang Oktober das erste Mal per Telefon erreiche, ist sie mit ihrem renovierten Vintage-Trailer durch New Mexico unterwegs. Die Verbindung ist schlecht. Lenker hat kein Aufnahmegerät dabei, um ihre Seite des Interviews aufzunehmen. Wir vereinbaren einen späteren Gesprächstermin, plaudern aber trotzdem ein wenig. Die Singer-Songwriterin ohne festen Wohnsitz ist den Tränen nahe. Sie spricht über die Trennung von ihrer Freundin. Aufgrund des Lockdowns sei diese nicht persönlich erfolgt. Lenker erzählt das, weil sich viel von diesem Schmerz in die Lieder ihres neuen Soloalbums „Songs And Instrumentals“ ergossen hat. Die Vielschreiberin ist bekannt für ihre autobiographischen Ansätze, die sie aber nur selten in konkrete Erzählungen übersetzt.

Lenker hat gerade eine Rauchpause eingelegt. Sie ist mit ihrem Trailer unterwegs durch die USA. Der Start war Upstate New York, das Ziel ist Tobanga Canyon, wo ich sie eine Woche später via Videokonferenz erreiche und wo sie mit den restlichen Mitgliedern von Big Thief an neuen Songs arbeitet.

„Wir haben ähnliche Nachnahmen”, ist das erste, was eine nun sichtlich entspannte Lenker dem Lehner sagt. Wir sprechen über Familienverbindungen in den deutschsprachigen Raum, die Lenker aber nicht bestätigen kann. „Mein Vater wurde adoptiert, deshalb der Nachname.“ Über das restliche familiäre Geflecht wissen sehr viele Menschen zumindest etwas Bescheid. In Lenkers Songs tauchen immer wieder Verwandte auf, einige Covers der Big Thief-Alben zieren alte Familienfotos.

Eine kleine Folk-Geschichte

Lenkers Familie entstammt einer christlich-fundamentalistischen Sekte. Die Kindheitstage waren von einem strikten moralischen Regime geprägt. Die Lenkers zogen von Ort zu Ort. Der Vater, ein Musiker, stieg zwischenzeitlich aus, wollte aus seiner 13-jährigen Tochter einen Popstar formen, bevor er wieder zurück zum Glauben fand. Die Eltern ließen sich scheiden. Lenker spielte bereits als Kind Gitarre. Die Hochbegabte kam im berühmten Berklee College of Music in Boston unter. Dort traf sie den Texaner Buck Meek. 2014 gründeten die beiden die Band Big Thief.

Mit ihren ungewöhnlichen Harmonien und der wandelbaren Stimme Lenkers, die sich leicht angekratzt zwischen der frühen Kate Bush, Vashti Bunyan und Joanna Newsom legt, spielte sich die Band schnell in Fan- und Kritikerherzen. Der Output des Zirkels ist enorm. Seit der Gründung sind vier Studioalben von Big Thief veröffentlicht worden und drei Soloalben von Lenker erschienen. Der 2019er-Longplayer „U.F.O.F.“ wurde bei den diesjährigen Grammys für das beste „Alternative Album“ nominiert.

Adrianne Lenker und Big Thief 2019

Michael Buishas

Adrianne Lenker mit ihrer Stammband Big Thief

Bei einer Session in Topanga Canyon blieb so viel unveröffentlichtes Material übrig, dass Big Thief im April spontan eine Benefiz-EP zugunsten ihrer Road-Crew zum Verkauf anboten, da die Crew seit Corona ohne Arbeit dasteht. Der Lockdown traf Big Thief am Ende ihrer letzten Europa-Tour. Die Termine in Übersee mussten verschoben werden. Dann der Breakup mit der Künstlerin Indigo Sparke (Lenker war zuvor mit Buck Meek von Big Thief verheiratet).

„Ich wollte einfach niemanden sehen für eine Weile, ich wollte nur in der Nähe meine Schwester sein und die lebt im Westen von Massachussets“, erzählt Lenker. Für den sozialen Detox wählte die Songwriterin eine Waldhütte in den Berkshire Mountains. Ihre akustische Gitarre, eine Martin, die sie seit ihrer Kindheit spielt, hatte sie zwar dabei, doch Musikmachen stand eigentlich nicht auf dem Plan.

Im Bauch der Gitarre

„Bald fiel mir auf, dass sich der Rahmen der Hütte im Inneren befand und die Träger frei lagen – genau so, wie im Resonanzkörper einer Gitarre. Wenn ich nun meine Gitarre spielte, wirkte der Raum wie ein Verstärker. Ich liebe es, den Kopf auf die Gitarre zu legen und die Vibration zu spüren und genauso fühlte sich das an – so ein warmer Sound! Es war dieser Raum, der mich inspirierte, dieses Album zu machen.“

Cover "Songs and Instrumentals"

4AD

„Songs And Instrumentals" ist bei 4AD erschienen. Das Titelbild stammt von einem Gemälde der Großmutter von Adrianne Lenker Hier geht es zum Interview-Podcast mit der Folk-Sängerin.“

Kiefernholz war also schuld, dass wir uns jetzt dieses wunderbare neue und völlig ungeplante Album von Adrianne Lenker anhören müssen – immer und immer wieder. Der Titel klingt zunächst wie ein Witz: „Songs And Instrumentals“ heißt dieses Doppelalbum, das genau das enthält. Songs und Instrumentalstücke. Und doch ist es ein guter Titel, denn er verweist auf die Essenz der Entstehung und Ausrichtung dieser Platte.

Als die Songideen zu sprießen begannen, lud Lenker den befreundeten Toningenieur Philip Weinrobe ein. Als Aufnahmegerät diente zunächst ein Sony Walkman, dann ein alter Achtspurrekorder. Das Album wurde später im Studio keiner digitalen Begradigung unterzogen. Wir hören, was in der Hütte zu hören war inklusive Regenprasseln, das Flüstern des Windes, Gesprächsfetzen und ein Glockenspiel, das am Eingang der Hütte hängt.

„Wir hatten eine Routine entwickelt. Am Morgen und am Abend standen Instrumentalimprovisationen am Programm. So konnten wir jeden Tag begrüßen und verabschieden. Wir machten die dazugehörigen Aufnahmen ohne großen Vorsatz. Wenn etwas Brauchbares dabei ist, okay, wenn nicht, auch okay. Und ich liebe das freie Spielen, einfach weil es sich gut anfühlt.“

So gesellten sich zu den „Songs“ die „Instrumentals“. Sie befinden sich - in zwei lange Passagen zusammengefasst - am zweiten Teil des Doppelalbums. Doch es ist nicht das Handwerkliche oder das Authentische, das „Songs And Instrumentals“ zu einem gelungenen Werk macht. Adrianne Lenker hat es geschafft, aus dem Trennungsschmerz, der Naturerfahrung und der kärglichen Instrumentierung ein großes Ganzes zu formen, das die Entstehungsgeschichte und die Umstände der Produktion weit hinter sich lässt.

His eyes are blueberries, video screens,
Minneapolis schemes and the dried flowers
from books half-read
(Song „Ingydar“)

Trotz Hippie-Alarm bleiben wir von einer romantischen Naturverklärung verschont. Zwischen all den schönen Farnen, Lichtspielen und kalten Eisbädern im nahen Bach, den drolligen Eichhörnchen („die Könige des Waldes“) und Schwarzbären („Ich habe einen gesehen!") tauchen auch Zombie Girls, Zigarettenstummel und verwesende Wildschädel auf. Es sind einprägsame Bilder über das Werden und Vergehen der Liebe und des Lebens, die Adrianne Lenker da zeichnet.

Das Setting bildet die Leinwand für die Texte, die mal sehr konkret von einem vermurxten Feiertagswochenende bei den Ex-Schwiegereltern erzählen (Song „Always“), oder sich in poetische Assoziationsketten über das Auflösen alles Stofflichen verlieren (Song „Ingydar“). Lenker besitzt die Gabe, auf den eigenen Bauchnabel zu starren und doch tief in die Seele des Menschen blicken zu können.

Dass sie im Moment einen Lauf hat, wenn es um das Schreiben von Musik und Texten geht, ist ihr bewusst. Warum das so ist, kann sie sich hingegen nicht erklären.

„Es ist ein Mysterium für mich. Ich folge nur den Eingaben. Die kommen derzeit wie ein Fluss. Ich habe keine großen Erwartungen. Manchmal denke ich, dass ich vielleicht ein ganzes Jahr keinen Song schreiben werde und dann ist er einfach da. Danke Universum!“

Und doch hat die Muse Muskeln, die trainiert werden wollen."Ich denke aber schon, dass es auch mit einer gewissen Intention zu tun hat. Wenn du gerne malst, dann greife zum Pinsel, wenn du Songs schreiben willst, greife zur Gitarre. Nichts fällt vom Himmel. Mach es einfach und achte nicht so sehr auf die Resultate. Das hat mir sehr geholfen. Ich schreibe so viele Sachen, die überhaupt nie jemand zu Gesicht bekommt."

Mit „Songs And Instrumentals“ ist Adrianne Lenker schon jetzt ein Klassiker des Künstlerklausenpop gelungen und die alte Hütte darf auch gelegentlich mitächzen.

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