FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Zum Grab des Autors Wolfgang Herrendorf hat jemand sein Buch "Tschick" hingestellt.

Christine Fabian

„In zwangloser Gesellschaft“: Unterwegs auf Friedhöfen mit Leonhard Hieronymi

Über die Unsterblichkeit von Menschen und Büchern hat sich Leonhard Hieronymi so seine Gedanken gemacht. Und mit „In zwangloser Gesellschaft“ ein vergnügliches, hell leuchtendes Buch über Friedhöfe geschrieben.

Von Maria Motter

„In zwangsloser Gesellschaft“ heißt der Debütroman des deutschen Autors Leonhard Hieronymi. Und dann führt das Buch ausgerechnet auf Friedhöfe. Doch anders als in modernen Klassikern der Unterhaltungsliteratur wie Stephan Kings „Friedhof der Kuscheltiere“ haben die Schauplätze des Buchs nichts Furchterregendes an sich. Vielmehr beginnt das Buch mit einem Lachanfall in der Kallistus-Katakombe in Rom.

Das Buch "In zwangloser Gesellschaft"

Hoffmann und Campe

„In zwangloser Gesellschaft“ von Leonhard Hieronymi ist im Herbst 2020 bei Hoffmann und Campe erschienen.

„Natürlich darf man in der Katakombe, wo vierzehn tote Päpste liegen, nicht lachen“, sagte Leonhard Hieronymi dem NDR in einem Interview, den Lachkrampf aus dem Buch hatte ein Cousin in der Realität bekommen und alle mitgerissen. Heiter geht es los und diese Stimmung prägt das Buch, auch wenn Wetter und andere Widrigkeiten aufkommen, und dieses erste Bild gleich aufgeladen ist mit vielem, das die menschliche Existenz ausmacht. Schließlich soll es auch ein bissschen um die großen Fragen gehen, wenn schon ein junger Mann loszieht mit dem durchaus größenwahnsinnigen Gedanken, gegen das Vergessen anzuschreiben.

Roadtrips zu Friedhöfen, bis ans Schwarze Meer

Auf 237 kurzweiligen Seiten ist also ein junger Autor unterwegs, um die Gräber beinahe vergessener Autor*innen aufzusuchen. “Aber wenn auch die Menschen mit den Erinnerungen an die Toten sterben, also wir?“, wird einer der Freunde fragen, der sich für einen Trip einteilen lässt. Die Freundin kann der Obsession weniger abgewinnen, die Dringlichkeit der Gräberbesuche erschließt sich ihr nicht ganz. Ida Hahn-Hahn und Kathinka Zitz-Halein sagen ihr nichts – noch.

Der junge Mann nimmt sich ein Jahr Zeit für das Unterfangen, das er „Wunderreise“ nennt, und wunderbar gestaltet sich auch der kleine, vergnügliche Roman von Leonhard Hieronymi. Dessen Alter Ego im Buch irrt voll Tatendrang zwischen Grabreihen auf Friedhöfen in Rumänien, Deutschland und Österreich. Sein Vater legt ihm eine Schreckschusspistole in den Kofferraum („Warum hatte sie mir mein Vater nur mitgegeben?“), als er die Stadt Duchcov in Tschechien zum Ziel erklärt. Derart verwegen erscheinen die Recherchen, und tatsächlich wird jeder Friedhofstrip ein Abenteuer für sich. „Das Schwarze Meer schwappt“, das Jahr 2019 war das heißeste Jahr in Europa seit Beginn der Wetteraufzeichnungen und wer sich auch schon öfter gefragt hat, was aus Saif al-Islam al-Gaddafi wurde, dem sei dieses Buch noch mehr ans Herz gelegt.

Leonhard Hieronymi hat eine Haube auf

Linda Rosa Saal

Leonhard Hieronymi hat mit „Ultraromantik“ vor einigen Jahren ein Manifest verfasst, um den Bachmannpreis gelesen und ist 1987 in Bad Homburg geboren.

Der Ich-Erzähler begegnet alles andere als schweigsamen Totengräbern und erfährt von Zukunftsüberlegungen der Branche, er lädt sich die App des größten Friedhofs in Europa aufs Smartphone und trifft österreichische Monarchist*innen, auch in Prag und Rom interessiert er sich nur für letzte Ruhestätten. Ist man schon mal da, kann man sich auch den Gräbern Prominenter widmen – von Ovid bis Wolfgang Herrndorf. Wobei die Suche nach Ovids Grab ihn und seinen temporären Begleiter in Rumänien bis an die Grenze treibt und er Herrndorfs Grab einer spontanen Putzaktion unterzieht.

So amüsant, dass man immer wieder reinliest

Leonhard Hieronymi jongliert zwischen dem Hier und Jetzt und einem gebündelten Wissen über große Dichter und tote Schriftstellerkolleg*innen. Er liebt Popkultur und anhand all der Referenzen könnte man sich ganze Film-, Platten- und Leselisten für diesen Winter erstellen. “Ich wollte wissen, wie nahe man dem Verschwinden wirklich kommen konnte“, heißt es an einer Stelle und dann ist es Radioheads „How to disappear completely“, das als Soundtrack irgendwo an der Donau erklingt. „In zwangloser Gesellschaft“ ist selbstverständlich herrlich nerdy, aber nie besserwisserisch öd.

“Ich schaute durch das Gitter, da lag Bud Spencer, der ja immerhin und unter anderem das Buch Ich esse, also bin ich geschrieben hatte.“

Jetzt könnte man sich in der Nacherzählung von Anekdoten verlieren, aber Hieronymi bringt wie nebenbei Ängste und Wünsche rund um Sterblichkeit auf und geht bei allem Amüsement über sich selbst gewissenhaft vor. Besonders schön im Buch sind die Kurzbiografien von Persönlichkeiten, etwa von Arno Schmidt, der Drehbuchautorin Thea von Harbou und der 1797 in Wien geborenen Weltreisenden Ida Pfeiffer.

Von der Angst vor Untoten bis zu einer plausiblen Erklärung, weshalb Unsterblichkeit ein recht kurzsichtiger Wunsch ist, reicht die Auseinandersetzung mit Themen, die ein Friedhofsbesuch nach sich ziehen kann. Wer bislang nie so recht verstanden hat, weshalb Menschen die Gräber ihrer Idole fotografieren und Friedhofsbesuche mehr als Pflichtübung aufgefasst hat, dem könnte dieses Buch einen erfreulichen Zugang zu diesen Orten eröffnen.

mehr Buch:

Aktuell: