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Erich Moechel

Grenzüberschreitende Überwachung wieder auf der EU-Agenda

Ein irrtümlich nicht als „vertraulich“ eingestuftes Strategiepapier der EU-Ratspräsidentschaft gibt Einblick in die großen Differenzen zwischen Ministerrat und Parlament zum Thema.

Von Erich Moechel

Neben der Verordnung zum Schutz der Privatsphäre (E-Privacy) steht noch ein zweiter, schwerer Brocken im Digitalbereich auf der Agenda der portugiesischen Ratspräsidentschaft. Die steckengebliebene Richtlinie zum grenzüberschreitenden Datenzugriff für Strafverfolger (E-Evidence) soll demnächst in Trilog-Verhandlungen mit dem EU-Parlament finalisiert werden. Das hatte den Entwurf von Kommission und Rat im Dezember abgelehnt.

Das Parlament besteht darauf, dass bei grenzüberschreitenden Überwachungsanordnungen die lokalen Justizbehörden über deren Rechtmäßigkeit entscheiden. Kommission und Rat wollten diese Überprüfung, und damit die Haftung, direkt den betroffenen Providern, Telekoms und Netzplattformen zuschieben. Weiters wird vom Parlament verlangt, dass aus der Richtlinie eine Verordnung wird, die bei der nationalen Umsetzung keinen Spielraum lässt. Hauptgrund für diese innereuropäischen Vorbehalte sind die Justizsysteme Ungarns und Polens, gegen die EU-Verfahren laufen.

Screenshots aus Dokumenten

EU Parlament/Europäischer Rat

Das Dokument, auf das sich dieser Artikel bezieht, ist dem Rat offenbar „ausgekommen“, weil es anfangs nicht als „limite“ (vertraulich) klassifiziert war. In der Datenbank des österreіchischen Parlaments findet sich dazu nur diese eine Seite wie im Screenshot zu sehen ist. Die britische Bürgerrechtsorganisation Statewatch hat das Originaldokument jedoch gesichert.

Seit März 2020 hängt der Haussegen zwischen Parlament und Kommission in puncto E-Evidence ziemlich schief.

Das große Abtesten im Ministerrat

Im Vorhabensbericht der portugiesischen Ratspräsidentschaft an den Ministerrat steht naturgemäß kein Wort über diese Vorbehalte, aber auch im Rat ist der Unmut hinter den Kulissen groß. Ungarn und Polen hatten die Verabschiedung des neuen EU-Budgets und damit auch die Auszahlung der Covid-Hilfsgelder im November mit einem Doppelveto wochenlang blockiert, weil diese Gelder an Auflagen zur Rechtstaatlichkeit gekoppelt waren. Diese Aktion hatte das Vertrauen der übrigen Mitgliedsstaaten in die Rechtstaatlichkeit beider Staaten nicht eben gestärkt.

Der Auschuss für Bürgerrechte und Justiz, der die Bearbeitung der Vorlagen von Rat und Kommission für das Parlament vorgenommen hatte, hat viele Kritikpunkte aus der Zivilgesellschaft eingearbeitet. Die neue Ratspräsidentschaft testet nun mit den 27 Ratsmitgliedern ab, welche Positionen welche Staaten dazu einnehmen. Es ist also damit zu rechnen, dass die Trilog-Verhandlungen nicht so schnell ablaufen können, geplant war eine Verabschiedung noch im ersten Halbjahr, was sich nach dem aktuellen Stand der Dinge kaum ausgehen kann.

Screenshots aus Dokumenten

EU Parlament/Europäischer Rat

Aus einer Aussendung des EU-Parlaments zur Entscheidung im Dezember, die Version des Ministerrats vorerst einmal abzulehnen. Die hier zitierten Artikel-7-Verfahren der EU-Kommission laufen gegen Ungarn und Polen

Im April 2019, wurde der Kommissionsentwurf zu E-Evidence, der „Sicherung von Beweismitteln in der Cloud“ offiziell dem Parlament vorgestellt.

Differenzen zwischen Parlament und Rat

Die Parlamentsversion sieht eine Benachrichtigungspflicht der Justizbehörden vor, samt einer Frist von zehn Tagen, um das Überwachungsbegehren aus dem EU-Ausland zu prüfen und gegebenenfalls abzulehnen. Es geht hier um die Wahrung der Rechte der Betroffenen, die in der Ratsversion allenfalls ex post Beschwerde einlegen konnten. Der Kommissionsentwurf hatte diese rechtliche Prüfung gleich direkt den Providern zuschieben wollen, denn E-Evidence war ja gestartet worden, um die derzeit üblichen monatelangen Rechtshilfverfahren nach dem sogenannten MLAT-Verfahren abzukürzen. Das Ziel des Vorhabens war von Anfang an die Beschleunigung von grenzüberschreitenden Ermittlungen, genauer gesagt der schnellere Zugriff nationaler Strafverfolger auf Kommunikationen in Sozialen Netzwerken. In der Praxis läuft das alles auf eine Lex Facebook hinaus.

Im Februar 2019 war zwar schon klar, dass E-Evidence erst Anfang 2020 ins EU-Parlament kommen würde. Die Kommission hatte dennoch bereits Verhandlungen über ein gleichgeartetes Abkommen mit den USA begonnen.

Der Bericht der portugiesischen Ratspräsidentschaft listet noch eine ganze Reihe weiterer Differenzen auf, die wohl wichtigste dabei ist, ob auch Finanzdienstleistungen unter die Verordnung fallen sollen. Ebenso verschieden sind die Positionen in diesem Punkt: Welche Provider in welchen EU-Staaten Repräsentanten in Rechtsfragen nominieren müssen und ob diese Rechtsvertreter auch Durchsuchungsanordnungen entgegennehmen müssen. Letzteres lehnt das Parlament kategorisch ab. Es ist also nicht geklärt, welche Firmen überhaupt unter diese Regelungen fallen und wie überhaupt das Prozedere ist. Das Parlament fordert, dass die Abwicklung dieses Datenaustauschs zu Strafverfolgungszwecken über eine EU-Plattform erfolgen solle.

Screenshots aus Dokumenten

Europäischer Rat

Hier übt sich die portugiesische Ratspräsidentschaft in diplomatischem Understatement. Die „wenigen Punkte“ in in der sich die Zugänge von Parlament und Rat unterscheiden betreffen zum Beispiel den Umfang und Gütigkeitsbereich der geplanten Regelung. Das fällt wohl eher unter fundamentale Differenzen, die Fußnote am Schluss dieses Ausschnittes aus dem Strategiepapier des Ratspräsidentschaft verweist auf einen weiteren grundsätzlichen Widerspruch, dessen Behandlung verschoben wurde.

Wie es jetzt weiter geht

Es sieht also nicht danach aus, dass diese grundsätzlichen Differenzen bis zur selbstgesetzten Frist im Sommer beigelegt werden können, wenn bis jetzt nicht einmal Einigkeit über die legistische Form der Umsetzung besteht und Umfang bzw. Gültigkeitsbereich ebenso nicht akkordiert sind. Unter diesen Umständen schon jetzt in das finale Trilog-Verfahren zu gehen ist allenfalls als „mutig“ zu apostrophieren, bei diesem Stand der Dinge Prognosen in den Raum zu stellen wäre - um im diplomatischen Understatement zu bleiben - als „wenig hilfreich“ zu bezeichnen.

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