„Soon“: Das Leben nach der Klimakatastrophe
Von Paul Pant
Was werden Schulkinder im Jahr 2151 über das 21. Jahrhundert lernen? Werden die Geschichtsbücher von der ökologischen Renaissance, der Energiewende sprechen? Oder wird unser Zeitalter als verrußtes Mittelalter der Klimakatastrophe eingehen?
Jahrzehnte nach der Klimakatastrophe
Die Graphic Novel „Soon“ zeigt die düstere Zukunftsversion. Die Menschheit ist in einem Jahrhundert auf ein Zehntel der Bevölkerung geschrumpft. Nur mehr 12 Prozent der Landfläche sind bewohnbar, der Rest ist der Natur zur Regeneration überlassen worden. In sieben streng reglementierten Stadtzonen leben die Überlebenden der Apokalypse.
Carlsen Verlag
„Soon“ beginnt mit einem pädagogischen Zeigefinder. In einem Museum bestaunen die Kinder der Zukunft den nachgebauten New Yorker Times Square. Ein Mahnmal der Energieverschwendung, das für Besuchergruppen kurzzeitig erleuchtetet wird. Kleine Infotafeln in Schaufenstern und Autos dokumentieren den Ressourcenverbrauch. Ungläubige Gesichter starren auf eine Einweg-Plastikflasche. Dass für einen Liter verpacktes Wasser drei Liter Wasser in der Herstellung verschwendet wurden, ist unbegreiflich für Menschen im Jahr 2151.
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Abschied nehmen
In diesem Setting entspinnt sich eine Mutter-Sohn-Geschichte. Astronautin Simone Jones will Abschied nehmen von ihrem Sohn Juri. Mit dem „Soon-Projekt“ will Simone auf eine Weltraummission ohne Wiederkehr aufbrechen, zum Planeten Proxima Centauri B. Denn die Ressourcen der Welt sind erschöpft. Eine letzte Weltraumreise soll die Zukunft der Menschheit sichern. Vor dem Abflug will Simone mit Juri noch einmal den sterbenden Planeten bereisen. Juri will sich aber nicht verabschieden. Er flüchtet in die verseuchte Welt, in die Freiheit, außerhalb der Zonen. Dort entdeckt er, dass auch die alte Welt eine Zukunft hat.
Ilustrator Benjamin Adam and Autor Thomas Cadene haben mit Soon eine Future History in einem erschreckend realistischen Szenario gezeichnet. Die Geschichte von Simone und Juri wird in jedem Kapitel durch faktenreiche Geschichtsrückblenden unterbrochen. Dabei bedienen sich die französischen Autoren der Ästhetik von Infografiken. In diesen lassen sie detailreich die Zukunft in Vergangenheitsform Revue passieren. Es fühlt sich wie das Nachschlagen der Klimakatastrophe in einem interaktiven Museum an. Der Niedergang unserer Zivilisation nüchtern mit Zahlen und Fakten dokumentiert.
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Point of no Return
In „Soon“ (Erstveröffentlichung 2019) beginnt die Klima-Apokalypse – fast schon prophetisch - mit eine Grippe-Pandemie. Dann zerstören riesige Stürme die Infrastruktur und ganze Städte. Es folgt die „Große Kontamination“ durch atomare Verstrahlung. Kriege um Ressourcen und Impfstoffe beschleunigen den Niedergang. Die Menschheit und der Planet können sich von den überschlagenden Ereignissen nicht mehr erholen. Am Ende erodieren die Staaten, Menschenrechte und individuelle Freiheitsrechte werden abgeschafft.
„Soon“ von Thomas Cadene (Text) und Benjamin Adam (Text und Illustration) ist im französischen Original bei Éditions Dargaud erschienen und in der deutschen Übersetzung von Ulrich Pröfrock bei Carlsen.
Trotz des erdrückenden Rahmens erzählt „Soon“ eine gefühlvolle Geschichte über Juris Abschied von seiner Mutter. Die reduziert gezeichneten Figuren und die gelungene Kolorierung, abwechselnd in Dunkelblau und Pastellfarben, unterstreichen gekonnt die Geschichte. „Soon“ zeigt eine Welt nach der Klimakatastrophe, in der wir hoffnungsvoll in die Zukunft blicken können, aber mit Schrecken auf unsere Gegenwart zurücksehen.
Publiziert am 19.03.2021