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Porträtfoto Ersin Karabulut

Zita Bereuter

Comic

Ersin Karabulut - vom Comicfan zum Comichelden

Schon als Kind hat er Comics geliebt, als Erwachsener jahrelang seinen Alltag in der Türkei in Comicstrips gezeichnet - und zu oft auch Erdoğan. Darüber, aber auch über Schnauzbärte, die Mafia und Politik erzählt Ersin Karabulut in seiner Graphic Memoir „Das Tagebuch der Unruhe“ und im Interview.

Von Zita Bereuter

Comics und Karikaturen - vor allem Satire - haben in der Türkei eine lange Tradition. Seit über hundert Jahren gibt es Satiremagazine, erzählt Ersin Karabulut, selbst Comiczeichner und Mitgründer einer Humorzeitschrift. Einen Höhepunkt gab es von den 1970ern bis in die 1990er Jahre. Vom Satiremagazin „Gırgır“ wurden wöchentlich rund 400.000 Ausgaben verkauft. Es gehörte weltweit zu den drei am meisten verkauften Satiremagazinen - neben „MAD“ in den USA und „Krokodil“ in Russland.

Auf meist 16 Seiten wurden in „Gırgır“ auf billigem Zeitungspapier Texte ebenso wie Cartoons und Comics angeboten - quer durch die politischen Lager. Ganz selbstverständlich witzelte man in den Magazinen über Politiker. Mit Erdoğan war allerdings Schluss mit lustig. Er klagte 2005 das Magazin „Cumhuriyet“, das ihn als Katze darstellte. (Der Zeichner gewann damals den Prozess, heute wäre das undenkbar.) Aus Solidarität mit „Cumhuriyet“ brachte das Magazin „Penguen“ ein Cover mit Erdoğan in verschiedenen Tiergestalten. „Penguen“ wurde umgehend zu einer Geldstrafe von 40.000 Lira verklagt. (5.000 Lira pro Tier. Dass der Pinguin im Logo auch Erdoğans Gesichtszüge trug, wurde übersehen.) All das erzählt Ersin Karabulut in seiner Graphic Memoir „Das Tagebuch der Unruhe“, das mit seiner Kindheit beginnt.

Seite 133 des Comics: Erdogan erscheint auf dem Cover eines Magazin, er hat einen, langen gestreiften Schwanz wie eine Katze.

Karabulut/Dargaud | Carlsen Verlag

Vom Comicfan ...

Stifte, Pinsel und Farben waren ganz selbstverständlich in Ersin Karabuluts Elternhaus. Abends malte sein Vater Bilder, um das bescheidene Familieneinkommen aufzubessern. Tagsüber lehrte er - wie seine Frau - in einer Grundschule. Während der Vater also malt, sitzt der kleine Ersin mit am Tisch und zeichnet Comics. Ersin ist überzeugt davon, dass alle Erwachsenen abends zeichnen. Erst in der Volksschule wird diese Vorstellung widerlegt.

Ersin liebt Comics. Die nationalen Helden aus den Heften, die sein Vater manchmal kauft, ebenso wie die Magazine, die Ersin aus dem Müll rettet oder beim Spielen gewinnt. Denn bei den Kindern in der Nachbarschaft ist ein Glücksspiel sehr beliebt: Jemand legt sein Comicheft auf den Boden und aus einem gewissen Abstand wirft ein Kind eine Münze auf das Heft. „Wenn die Münze wegspringt oder abrutscht, bekommt sie der Besitzer des Comics. Wenn sie auf dem Heft landet, bekommt der Werfer die Münze und das Comic.“ Ersin Karabulut hat das Spiel geliebt. „I was very good at that.“

Seite 63 des Comics: Der Zeichner feiert die Veröffentlichung seines ersten Comics.

Karabulut/Dargaud | Carlsen Verlag

Comics strahlten für ihn eine Magie aus. Er studierte sie geradezu und wunderte sich, dass manche Panels teilweise ganz genau gezeichnet waren, aber am Rand nur schlampig. „Jahre später erfuhr ich, dass die türkischen Verlage das Format der Comics vergrößert hatten, sodass Panels an der Seite ergänzt werden mussten.“ Andere Verlage haben, um Lizenzen zu sparen, ganze Originalseiten einfach durchgepaust.

Für Ersin war klar, dass er Comiczeichner werden wollte. Sein Vater war dagegen. Wusste der doch nur zu gut, dass man als Künstler ohne die richtigen Beziehungen kein Geld verdienen konnte. Nachdem sein bester Freund von der Mafia erschossen worden war, hielt er sich aus allem Politischen raus. Das riet er auch seinem Sohn. Ersin bemühte sich, Ingenieur zu werden, ging aber letztlich seiner Leidenschaft - dem Zeichnen - nach und begann Grafikdesign zu studieren und für verschiedene Magazine zu arbeiten.

... zum Comichelden

Jahrelang zeichnete er in einer wöchentlichen Kolumne „Aus dem Herzen gesprochen“ seinen Alltag. Die Geschichten kamen gut an, Ersin Karabulut wurde bekannt. „Das Mädchen hatte mich erkannt, weil ich das gestreifte T-Shirt trug, mit dem ich mich immer in meinen Comics zeichnete! Ich kaufte mir zehn weitere solcher Shirts. Je öfter ich sie trug, desto mehr Leute erkannten mich!“

Aber nicht nur die jungen Frauen interessierten sich für Ersin Karabulut, auch bärtige Islamisten suchten ihn vor seiner Wohnung auf. Ersin bekam Angst. Dass sie in der Redaktion immer wieder Drohanrufe bis hin zu Todesdrohungen erhielten, war eine Sache. Dass er privat verfolgt wurde, eine andere. Die Angst war plötzlich immer dabei. „We were always like checking how to escape of the office, when some people were coming.“ Dennoch fühlte er sich nicht als Held, weil er weiter zeichnete. "That’s a part of the job in Turkey.”

Der erste Band seiner Autobiographie endet mit dem 24-Jährigen, der nach wie vor mutig Comics zeichnet. „Denn egal, wie schlimm es kommt, ich habe meine Helden, denen ich vertraue und die mir immer den richtigen Weg weisen. Und mein großer Wunsch ist es, eines Tages einer von ihnen zu sein.“

Everything I drew in the book is true.

Cover: In einer Gasse einer türkischen Stadt steht ein junger Mann und liest eine Zeitung. Er lächelt.

Karabulut/Dargaud | Carlsen Verlag

„Tagebuch der Unruhe“ von Ersin Karabulut wurde von Christoph Haas aus dem Englischen übersetzt und ist im Carlsen Verlag erschienen.

Spoiler: Nach 15 Jahren stellen sie das „Penguen“-Magazin 2017 ein. Sie hätten das nicht auf Druck von Erdoğan gemacht, sondern aus wirtschaftlichen Gründen, erklärt Ersin Karabulut. Das Magazin habe sich nicht mehr gut verkauft. Die Leute seien einfach müde, immer die gleichen Gesichter zu sehen, ebenso wie die Künstler es leid seien, immer dieselben Gesichter zeichnen zu müssen. Er habe Erdoğan so häufig gezeichnet, dass er dessen Gesichtszüge besser kenne als die seiner Mutter.

Ersin Karabulut ist mittlerweile nach Paris gezogen. Dort hat er sein Leben in der Türkei gezeichnet - witzig, unterhaltsam und detailreich. Man erfährt viel über die Gesellschaft, den Alltag und die Kultur in der Türkei: dass etwa Schnauzbärte eine politische Gesinnung darstellten. Dabei blickt Ersin Karabulut auch in die Vergangenheit der Türkei: in das Chaos der 70er Jahre und die Zeit von Kemal Atatürk. In diesen Sequenzen ändert sich sein Zeichenstil ins Naturalistische und er zeigt die Bandbreite seines Könnens. Er habe diese Geschichte für europäisches Publikum gezeichnet, erklärt Ersin Karabulut. Erfunden habe er nichts. Im Gegenteil. „It’s underlined.“

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