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Colson Whitehead

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Frag’ mich niemals nach meinen Geschäften

Der amerikanische Schriftsteller Colson Whitehead ist zweimaliger Pulitzer-Preisträger. Ein großes Thema seiner ausgezeichneten Romane ist der strukturelle Rassismus in den USA. Den gibt’s auch im neuen Roman „Harlem Shuffle“, sonst aber ist so gut wie alles anders. Ab ins Gangstermilieu.

Von Lisa Schneider

Colson Whitehead gehört zu den Superstars der amerikanischen Literaturszene. Neben vielen anderen literarischen Auszeichnungen hat er auch schon zweimal den Pulitzer-Preis erhalten, 2017 für seinen Roman „The Underground Railroad“ und 2019 für „The Nickel Boys“. Beide Male große Gegenwartsliteratur über den tief in der amerikanischen Gesellschaft verwurzelten Rassismus, Diskriminierung und gewaltbereite Obrigkeit. „The Underground Railroad“ erzählt die Geschichte Schwarzer Sklav*innen, die in der Vor-Bürgerkriegszeit in den Norden der Vereinigten Staaten flüchten. „The Nickel Boys“ spielt im Florida der 60er Jahre, es geht um eine Besserungsanstalt für jugendliche, großteils Schwarze Straftäter. Ernste Themen, ernste Geschichten und dann besagter Doppel-Pulitzer: den haben neben Colson Whitehead nur drei weitere Autoren erhalten, darunter der große Chronist des Alten Südens, William Faulkner.

Mit „Harlem Shuffle“ liegt Colson Whiteheads neuester Roman vor, der in der deutschen Übersetzung sogar noch vor der englischen Originalfassung erscheint (allein daran kann man den umgreifenden Publikumserfolg auch außerhalb der Vereinigten Staaten ermessen). „I get to be funny again“, sagt der Autor im Vorfeld der Veröffentlichung. „Harlem Shuffle“ ist vielleicht nicht ganz das Buch, das man von Colson Whitehead erwartet hätte.

Streber und Gauner und alles dazwischen

Colson Whiteheads Erzählung beginnt 1959, im New Yorker Bezirk Manhattan, Viertel Harlem. Ray Carney betreibt ein Einrichtungsgeschäft, „Carney’s Furniture“. Es ist eine klein gedachte Tellerwäscher-Millionär-Geschichte: Carneys Vater, sie raunten ehrfürchtig „Big Mike“, war ein Gauner, Dieb und Rumtreiber. Nach dem Tod seiner Mutter lässt Michael Carney seinen Sohn eine zeitlang bei dessen Tante Millie und ihrem Sohn, Freddie, zurück. Die Cousins wachsen auf wie Brüder. Umgeben von Straßenbrutalität, Dreck und dem gewohnten Krach von Schüssen „gab [es] reichlich Gründe, sich aus Harlem zu verdrücken, wenn man es geschaukelt kriegte“. Aber das hat Ray Carney nicht vor. Er studiert Betriebswirtschaft und eröffnet besagten Einrichtungsladen, sein „merkwürdiges Königreich“. Carney und seine Frau Elizabeth haben zwei Kinder, ihre Wohnung unter der Hochbahn ist eng, finster und geräuschintensiv. Der Familie geht es gut, der Laden läuft, und außerdem verspricht Präsident Kennedy den Aufbruch zu (wirtschaftlich) neuen Ufern.

Buchcover Colson Whitehead "Harlem Shuffle"

Hanser

„Harlem Shuffle“ von Colson Whitehead erscheint in der deutschen Übersetzung von Nikolaus Stingl im Hanser Verlag.

Dann wird Carney über seinen Cousin Freddie, durchtrieben wie liebenswürdig, in einen Raubüberfall auf das legendäre Hotel Theresa hineingezogen. Es ist der glamouröse Mittelpunkt der Schwarzen, reichen Welt Harlems. Der Überfall geht einigermaßen gut, aber mit den Nach- und Auswirkungen dieser einen Nacht wird Carney für den Rest des Romans zu kämpfen haben. Zu feilschen, zu zocken, zu fälschen, zu tauschen, zu prügeln und zu stehlen. Mit welcher Naivität er an all das herangeht, ist gleichzeitig der Witz des Buchs.

„Wenn man es so formulierte, könnte ein außenstehender Beobachter auf die Idee kommen, dass Carney ziemlich oft mit gestohlenen Waren handelte, aber das sah er ganz anders. Es gab einen natürlichen Strom ein- und aus- und durch das Leben von Menschen gehender Waren, von hier nach dort, eine Fluktuation von Eigentum, und Ray Carney erleichterte diese Fluktuation.“

Carney muss, sie alle müssen irgendwann scheitern. Der Glaube ans Gegenteil kommt ihnen aber nicht abhanden. Daran merkt man, wie liebevoll der Autor mit all seinen Träumern und Taugenichtsen umgeht.

Aufstände in Harlem

Colson Whitehead erzählt „Harlem Shuffle“ in drei Teilen, der letzte endet im Jahr 1964. Es ist das Jahr, in dem Anfang Juli unter Präsident Lyndon B. Johnson der Civil Rights Act beschlossen wird, der per Gesetz die Diskriminierung aufgrund von Rasse, Hautfarbe, Religion, Geschlecht oder nationaler Herkunft verbietet. Nur kurz darauf wird in New York der „Harlem Riot“ beginnen. Das neue Gesetz hat nichts an den sozioökonomischen Strukturen geändert, die die Schwarze Bevölkerung New Yorks unterdrückt haben. Den Anstoß zum Protest und schließlich Aufstand gab am 16. Juli 1964 ein Mordfall, der an Gegenwärtiges erinnert: ein weißer Polizist erschoss einen 15-jährigen Schwarzen. Die Demonstrationen, Sit-Ins und gewalttätigen Plünderungen in Harlem dauerten sechs Tage an.

Im Roman „Harlem Shuffle“ - dessen Figuren wie angegeben „frei erfunden“ sind - wird Ray Carney wie viele andere ein Schild in seinem Schaufenster anbringen, das ihn als Schwarzen Verkäufer ausweist. So will er den Angriffen entgehen. Ironisch gut, wie da Schwarze Geschichte geschrieben wird, während Carney hauptsächlich versucht, seinen Arsch vor diversen Gläubigern zu retten. Einen Flyer mit Anleitung zum Bau von Molotov-Cocktails steckt er dankend ein, dem Gedränge auf den Straßen weicht er aber lieber aus. Sein Leben ist heiß genug.

Hetzjagd über die Seiten

Carneys Harlem ist ein bunter, nimmermüder, lauter, brodelnder Schauplatz. Die „schmutzige Stadt aus Beton und kaltem Stahl“. Es zischt und fiept und tropft. Der Ton des Romans ist dem Setting und seinen Protagonisten angepasst. Reklameanzeigen blinken, längst vergessene Elektronikmarken werden beworben, weiße Polizisten stecken ihr Schmiergeld ein, und schon wieder biegt der nächste Kleinganove um die Ecke, dessen Namen man sich vermutlich nicht merken wird. Das sind Sätze prall gefüllt mit Bildern und Information, und das ist sehr viel. Kurzes Durchschnaufen immer nach Kapitelende: So in etwa muss Carney sich fühlen, schwitzend auf der Jagd durch die Gässchen seiner krummen Geschäfte. Und da wären wir ja schon bei dem, der gut schreiben kann, oder so, dass Inhalt und Form ineinandergreifen.

Es muss Colson Whitehead Spaß gemacht haben, an diesem Roman zu arbeiten. Im Gegensatz zu seinen Bösewichten aus „The Underground Railroad“ oder „The Nickel Boys“ sind die Typen aus „Harlem Shuffle“ fast schon sanfte Zeitgenossen. Zwischen all die Leichen, Drogen und reichlich Blut mischen sich trockene Schmähs, Zynismus, das Schmunzeln über die Tollpatschigkeit der Anderen. Und manchmal bleiben sogar ein paar Minuten, um das ganze Chaos lächelnd wegzuschieben und aus weltmännisch-abgeklärter Perspektive zu betrachten. Funktioniert also fast wie ein Gangsterfilm. Die mag Colson Whitehead übrigens sehr gern.

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