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Lasst die Verrückten tanzen

Ein Kostümdrama in einer Nervenklinik: Der neue Film der französischen Schauspielerin und Regisseurin Mèlanie Laurent ist eine Adaption des mit mehreren Preisen ausgezeichneten Romans „Le Bal des Folles“ von Victoria Mas.

Von Jenny Blochberger

Das Jahr 1885 in Paris. Der Dichter Victor Hugo wird mit einem Staatsbegräbnis zu Grabe getragen. Die junge Eugénie (Lou de Laâge) ist lebenslustig, intelligent und fühlt sich eingesperrt im engen Konventionskorsett, in das ihr Vater sie zu zwängen versucht. Am gesellschaftlichen Leben der Pariser Intelligenzija teilnehmen darf nur ihr sensibler Bruder Théo; sie soll möglichst den Mund halten und bescheiden zuhause bleiben. Also stiehlt sie sich heimlich davon, um in den Cafés von Montmartre zu rauchen und Gedichte zu lesen.

Eugénie hat aber noch ein düstereres Geheimnis: Sie kann mit den Geistern verstorbener Menschen sprechen. Die Toten sind leider einigermaßen rücksichtslos und überraschen die junge Frau mitunter zu ungünstigen Zeitpunkten; ihre Familie wird auf ihre „Anfälle“ aufmerksam und steckt sie – zu ihrem Besten natürlich – in eine Nervenklinik, die gefürchtete Salpetrière. Die Frauen sind dort in einem kahlen Schlafsaal ohne Privatsphäre untergebracht und werden von arroganten Ärzten mit grausamen Therapiemethoden traktiert. Jegliche Abweichung von der Norm gilt bereits als medizinische Diagnose; manche der Frauen wurden einfach nur von böswilligen Verwandten in die Anstalt abgeschoben, wo sie vollkommen entmündigt dem Willen des medizinischen Personals unter dem renommierten Doktor Charcot unterworfen sind.

Patientinnen als Studienobjekte

Die Klinik-Vorsteherin Madame Geneviève, gespielt von Regisseurin Mèlanie Laurent selbst, ist fasziniert von Eugénie - vor allem von deren Fähigkeit, mit den Toten zu kommunizieren, denn natürlich hat Geneviève eine tote Schwester, mit der sie gerne in Kontakt treten würde.

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„Le Bal des Folles“ / „Die Tanzenden“ ist auf Amazon Prime zu sehen.

Allmählich wird die Vorsteherin weniger abgestumpft dem Leiden ihrer Schutzbefohlenen gegenüber; immer stärker fällt ihr auf, wie grausam die Patientinnen behandelt werden. Sobald eine Frau nämlich als psychisch gestört abgestempelt wird – und das geschieht mit erschreckender Schnelligkeit – wird sie nicht mehr wie ein menschliches Wesen behandelt, sondern wie ein leicht abstoßendes Faszinosum. In der Klinik sind Standesunterschiede plötzlich wie weggefegt: Alle schlafen im selben Raum, bekommen das gleiche Essen und werden denselben erniedrigenden Behandlungen unterworfen. Tägliche Eisbäder und wochenlange Isolation sind anerkannte Methoden, bei denen Therapie und Strafe kaum voneinander unterscheidbar sind.

Interessant ist das Beziehungsklima unter den Insassinnen, die bis auf gelegentliche Auseinandersetzungen liebevoll und unterstützend miteinander umgehen. Es gibt keine Vorurteile gegenüber der bourgeoisen Eugénie, im Gegenteil wird ihre Schönheit bewundert und Mitleid mit ihr geäußert, deren zartes Gemüt unter diesen Umständen doch besonders leiden müsse.

Ein Höhepunkt in der Anstalt ist der jährliche Bal des Folles, der Ball der Verrückten, bei dem die Insassinnen den anderen Ballgästen wie Freaks vorgeführt werden. Bei diesem Ball überschlagen sich dann auch die Ereignisse…

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Ausstattungskino mit Ja-eh-Botschaft

Optisch ist „Die Tanzenden“ eine Augenweide: Die Bilder wie in Kerzenlicht getaucht, die Ausstattung üppig und detailreich, und fast jede Einstellung könnte man einrahmen und aufhängen. Handlung und Inszenierung sind aber fast einschläfernd konventionell. Kein einziges Mal ist man überrascht davon, wie sich die Erzählung entwickelt; Figuren und Handlung erfüllen alle narrativen Konventionen, darüber hinaus gehende Eigenheiten sind kaum zu erkennen. Auch die zunehmende Empathie der Vorsteherin für Eugénie hat einen gewissen unguten Geschmack: In all den Jahren hat sie für keine der anderen Insassinnen derartiges Mitgefühl entwickelt, erst für die gutsituierte, gebildete Eugenie, die noch dazu das Ass im Ärmel hat, Geneviève den Kontakt mit deren verstorbener Schwester ermöglichen zu können.

„Die Tanzenden“ ist gut gespieltes, schön anzusehendes Ausstattungskino mit einer Botschaft: Männer haben schon vor 130 Jahren über Frauenkörper verfügt und die stärkste Waffe dagegen war auch damals schon Solidarität von Frauen untereinander. Eine soft-feministische Message, mit der man nicht gerade aneckt.

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