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Eine Schauspielerin, die wie ein junges Mädchen aussieht, vor einem Computer in einem Filmstudio.

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„Keiner fragt nach Hobbies oder Haustieren“

540.000 Menschen in Tschechien haben bisher eine Kino-Doku über online Kindesmissbrauch gesehen. Für „Gefangen im Netz“ wagte ein junges Filmteam eine extreme Recherche, die im Endeffekt auch zu Verhaftungen führte. Produzentin Pavla Klimešová im FM4-Interview über Macht, Ohnmacht und ein Publikum, das Konsequenzen sehen will.

Von Maria Motter

„Gefangen im Netz“ heißt die Doku eines tschechischen Regie-Duos, die zeigt, wie unfassbar schnell Fremde online Kinder missbrauchen. Das Filmsetting allein ist beachtlich: Mit drei Schauspielerinnen, die kindlich wirken und wie Zwölfjährige aussehen, und mit drei im Filmstudio nachgebauten Kinderzimmern, die mit Computern mit Webcams und Internet ausgestattet sind, ist das Filmteam online gegangen. Was dann in nur zehn Tagen geschehen ist, hat zu Verhaftungen geführt und ist jetzt im Kino zu sehen.

„Gefangen im Netz“ ist jetzt in den österreichischen Kinos zu sehen. Für Schulen machte das Filmteam eine adäquate Fassung.

„Als ich ins Studio gekommen bin und wir gesehen haben, wozu diese Männer fähig sind, was sie Kindern online antun, war ich schockiert“, sagt Pavla Klimešová. Sie hat die Doku von Vít Klusák & Barbora Chalupová produziert. Dass die Dreharbeiten beklemmend werden könnten, war ihr schon bewusst, lange bevor die Kinderzimmer als Kulisse im Filmstudio aufgebaut wurden. „Aber als ich das erste Skype-Gespräch mitverfolgt habe und gesehen habe, wie schnell diese Männer den sexuellen Kontakt zu den Frauen, die sie für 12-jährige Kinder halten, aufnehmen, ist mir klar gewesen, dass der Film wirklich helfen kann, eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema in Gang zu setzen. Und das ist uns wichtig.“

Der voyeuristische Aspekt ist so minimal wie möglich

Die Doku „Gefangen im Netz“ ist exzellent gemacht. In der ersten Minute sieht man, wie selbstverständlich Kinder mit Smartphones im Alltag unterwegs sind. Man schaut auf dieses Phänomen wie ein Außerirdischer, obwohl der Anblick eigentlich so vertraut ist. Dann beginnt der Film.

Den Prozess der Recherche im Film selbst zu zeigen, ist gerade sehr beliebt im Doku-Genre. Im Fall von „Gefangen im Netz“ macht dieser Zugang absolut Sinn. Wie schnell erwachsene Männer online sexuelle Gewalt gegen Kinder ausüben, vor der Webcam masturbieren und auch noch reale Treffen mit den Kindern vereinbaren wollen, ist hier zu sehen.

Der voyeuristische Aspekt, in „Gefangen im Netz“ auf Täter zu schauen, ist so klein wie notwendig gehalten, und auch das Leid der Darstellerinnen – die ja eigentlich für Opfer stehen – wird nicht ausgewalzt, ist aber deutlich. Erfahrene Psychotherapeut*innen wissen zu berichten, dass Täter*innen, die sexualisierte Gewalt gegen Kinder ausüben, sich in detailreichen Schilderungen ihrer Taten ergehen können. Darauf lässt man sich in dieser Doku nicht ein.

Filmstudio mit einem großen Team und Kulissen, die Kinderzimmer darstellen.

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Am Set von „Gefangen im Netz“ waren auch eine Psychologin, eine Sexualforscherin und auch ein Staatsanwalt.

Das Filmteam bespricht das unmittelbare Geschehen im Studio mit einer Psychologin, einer Sexualforscherin und auch einem Staatsanwalt. Die realen Treffen mit Tätern sind dann am schwierigsten auszuhalten gewesen.

„Das ist jetzt ein bisschen ein Spoiler, aber da war dieses Paar, das ein 12-jähriges Mädchen für einen Dreier finden wollte. Und sie sind zwei Stunden mit dem Bus aus einer kleinen tschechischen Stadt angereist, in der Erwartung, das Mädchen mit nachhause zu nehmen. Sie hatten tatsächlich bereits ein Busticket für das Kind gekauft“, sagt Pavla Klimešová. „Das war eine Frau. Sie muss sich doch daran erinnern, wie es ist, zwölf Jahre alt zu sein. Es ist für mich absolut befremdlich, wie eine Frau zulassen kann, dass so etwas passiert, geschweige denn das einem Kind antut. Aus weiblicher Sicht war das eine der schockierendsten Erkenntnisse, dass Frauen es zulassen und sich aktiv daran beteiligen, einem Kind derartige Gewalt anzutun.“

Die anderen Frauen, die Chatnachrichten an die vermeintlichen Mädchen geschickt hatten, schrieben, dass sie bisexuell oder lesbisch seien und sich zu den Mädchen hingezogen fühlten. „Sie waren allerdings nicht aggressiv in den Kontaktversuchen, es gab keine Skype-Anrufe und auch keine Versuche, jemanden zu Nacktfotos zu überreden oder zu erpressen.“ Anders war das Verhalten der Männer im Film.

Welche Social-Media-Plattform genützt wird, mache kaum einen Unterschied: „Das geschieht auf Tik-Tok, Instagram und in lokalen Chatrooms. Wird eine Seite offline genommen, löst sich das Problem nicht auf.“

Eine Darstellerin beim Chatten im Kinderzimmer-Set. Sie spielt eine 12-Jährige in "Gefangen im Netz".

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Für die Darstellerinnen waren die zehn Tage zwischen Studiodreh und realen Treffen mit den Tätern am schwersten. Sie mussten weiterhin Kontakt halten.

Die Täter schlugen schnell reale Treffen vor

Viele der Täter versuchen, die Kinder persönlich zu treffen. Darum entschloss sich das Filmteam, auch die tatsächlichen Treffen im Film zu zeigen. Nicht ahnend, dass die jungen Schauspielerinnen Mikros in den Ohren tragen und Sicherheitspersonal vor Ort ist, sprechen die Täter in einem Café offen über Taten, die im Strafgesetzbuch entsprechende Paragrafen haben.

Aus Sicht der Produzentin Pavla Klimešová ist es heikel, jemanden zu filmen, der nicht weiß, dass er gefilmt wird. Doch die Szenen auch zu veröffentlichen, war ihr ein Anliegen: weil sie immer wieder hörte, Männer, die online ihre Penisse zum Masturbieren vor die Webcam halten und Links zu Pornoseiten verschicken - und das im Wissen, dass jetzt ein Kind mit ihnen im Chat ist(!) -, würden die Gewalt ja auf Fernkommunikation beschränken.

Die Kritik, dass nur im Abspann zu lesen sei, dass auch Buben Opfer von Cybergrooming und online Missbrauch werden, kennt das Filmteam. Doch sie hatten Schwierigkeiten, einen Schauspieler zu finden, der als 12-jähriger Bub durchgeht und in einer Tonhöhe wie vor dem Stimmbruch spricht.

Vor Beginn des Filmprojekts hat Pavla Klimešová mit der Polizei Rücksprache gehalten und vor der Veröffentlichung sämtliches Material an die Behörde übergeben. Mehrere Männer aus den Chats waren der Polizei bereits bekannt, weil sie im realen Leben Kinder angesprochen hatten.

Die Regisseur*innen Vít Klusák und Barbora Chalupová

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Die Regisseur*innen Vít Klusák und Barbora Chalupová

Die Zuschauer*innen wollten Konsequenzen

Aufgrund der Doku „Gefangen im Netz“ nahm die Polizei Ermittlungen in 52 Fällen auf. Und das vor allem, weil die Öffentlichkeit so viel über den Film sprach. Die Doku war ein Riesending. „Die Menschen wollten auch juristische Konsequenzen sehen. Und manche haben gefordert, dass wir die Gesichter der Männer zeigen sollen, was wir nicht machen. Es ist nicht unsere Aufgabe“, sagt die 33-jährige Produzentin. „Wir wollten nicht ein paar Männer vorführen, die uns ins Netz gegangen waren, sondern eine breite Auseinandersetzung mit Kindesmissbrauch online.“

Zwei der Männer sind inzwischen zu Gefängnisstrafen verurteilt worden: Weil im Zuge der Ermittlungen festgestellt wurde, dass sie Kinder im realen Leben missbraucht hatten. „Vielleicht haben wir diese Leute aufgehalten, das weiteren Kindern anzutun. Und allein das gibt dem Film Sinn.“

Befremdlich ist die Szene in „Gefangen im Netz“, in der das Filmteam mit einer Darstellerin einen der Männer vor dessen Wohnhaus stellen will. Pavla Klimešová versteht die Kritik. Sie selbst war höchst skeptisch, als ihr das Regieduo das vorschlug. Aber es stellte sich heraus, dass der Mann die Social-Media-Profile aller drei Darstellerinnen angeschrieben hatte und dazu auch noch die Profile der „Freundinnen“ der Darstellerinnen. Selbst das Profil zur Vorabrecherche hatte er kontaktiert. Der Mann arbeitete damals als Organisator für Feriencamps und Schulausflüge. Die Art und Weise, wie der Mann sein Verhalten rechtzufertigen versucht, wollte Klimešová dann jedenfalls zeigen.

Drei Darstellerinnen, angezogen und frisiert wie Mädchen.

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Die Darstellerinen brachten eigene Dinge aus der Kindheit für die im Studio nachgebauten Kinderzimmer mit.

Keiner fragt nach Haustieren

Im Castingprozess, der kurz im Film zu sehen ist, berichten Schauspielerinnen von selbst erlebten Übergriffen online. Für das Setting im Filmstudio bringen sie Gegenstände und Zeichnungen aus ihren einstigen Kinderzimmern mit. Aber nur ein junger Mann wird sich für sie interessieren. Keiner fragt nach Hobbies oder Haustieren. Das Tempo, in dem die Männer das Vertrauen der Kinder bzw. die Kinder selbst online missbrauchen, widerspricht der naiven Vermutung, es handle sich um echtes Interesse am Menschen. „Es hat keinerlei anderes Interesse an den Kindern gegeben, als das eigene Vergnügen, dass ihnen jemand beim Masturbieren zuschaut und dass die zuschauende Person zwölf ist.“

Zur Sexualforscherin am Set sagte Pavla Klimešová, dass sie bei so einem Chat-Anruf das Fenster sofort schließen und den Kontakt blockieren würde. Und die Sexuologin antwortete, so würden Erwachsene denken und handeln. Aber für Kinder ist das viel schwerer: Der Täter auf der anderen Seite ist dominant, sie schicken Bilder – manchmal ohne zu realisieren, welchen Druck sie damit auf die Kinder ausüben – und erlangen eine Macht über die Kinder, die sich davor ängstigen, dass der Täter wütend wird und ihnen physische Gewalt antut. Und es ist auch möglich, dass Kinder zuerst aus Neugier dranbleiben.

Pavla Klimešová ist drei Jahre nach den Dreharbeiten nach wie vor mit den drei Darstellerinnen in Kontakt und fragt einmal im Monat nach, wie es ihnen geht und ob sie Hilfe bräuchten. Therapeutische Hilfe war immer möglich. „Das Schwierigste ist für sie gewesen, dass Passant*innen sie erkannt haben, weil ihre Gesichter auf Plakaten und in den Medien waren. Der Film ist ein Blockbuster in Tschechien gewesen. Für eine Doku ist das sehr ungewöhnlich. Die Frauen sagen heute, auch wenn sie eine Narbe in ihrem Herzen davongetragen haben, so war es das wert, wenn auch nur ein Mädchen oder Bub geschützt bleibt.“

Themen, über die andere sich nicht zu sprechen wagen, schrecken Pavla Klimešová nicht ab. In einem anderen, von ihr produzierten Film sprechen Autolenker, die einen Menschen durch Raserei ums Leben brachten, über ihre Schuld. Und ein Essayfilm über zwei Jahre Pandemie in Tschechien ist in Vorbereitung. „Aber das wird mehr eine Arthouse-Doku!“

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