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Rave in Kiew

Kostruk Viktoria

Techno-Boom in Kiew

Ein Gerücht macht die Runde: „Kiew ist das neue Berlin“. Viele hypen die ukrainische Hauptstadt als neues Zentrum der Techno-Szene. Und auch in anderen Städten Ost-Europas ist ein solcher Boom zu beobachten. Woher kommt der Trend in diesen Regionen?

Von Xaver Stockinger

Günstige Mieten, viel Platz und ein gewisses Post-Sowjet-Ambiente erinnern viele in Kiew an das Berlin der 90er Jahre. Dazu kommt eine blühende Techno-Szene. Erst vor kurzem hat in der ukrainischen Hauptstadt wieder ein neuer Club eröffnet, der keinen Namen hat, aber von Techno-Fans weltweit als Berghain 2.0 gehandelt wird. Mit der Errichtung des neuen Rave-Tempels wurde extra das Architekt*innen-Team des legendären Berliner Originals beauftragt. Dieser und viele andere Clubs der Stadt haben auf Techno-Fans weltweit magnetische Wirkung. In Tausendscharen strömen sie – sofern die Pandemieregeln es zulassen – in die ukrainische Hauptstadt.

Die Wurzeln des Hypes

Vlad Shast, der seit fast 10 Jahren in der ukrainischen Hauptstadt lebt und die Entwicklung der Techno-Szene beobachtet hat, erklärt, dass es in der Ukraine schon seit Langem eine wachsende Szene für elektronische Musik gibt. Ein richtiger Aufschwung geschah jedoch nach der Maidan-Revolution 2014. Tausende von Menschen protestierten damals auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz Maidan für eine Annäherung der Ukraine an Europa und entmachteten so das korrupte System des pro-russischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch. Das brutale Vorgehen der Polizei kostete über 100 Demonstrant*innen das Leben und auch bis heute herrschen im Osten des Landes noch blutige Konflikte. In den Jahren nach den Maidan-Ereignissen bekräftigte die ukrainische Jugend ihre pro-europäische Einstellung mit zahlreichen, teils politischen Raves. Ein Hype um Techno keimte auf und Clubs sprossen aus dem Boden.

Rave in Kiew

Kostruk Viktoria

Clubs als wichtige Safe Spaces

„No sexism / No racism / No homophobia / No gender discrimination / No photos / No prejudice“, so lautet etwa die klare Botschaft vom „Berghain 2.0“ in Kiew. „Die Clubs positionieren sich zunehmend als Safe Spaces, von denen es in der Ukraine sonst nicht viele gibt“, erzählt Sofiia Lapina, Kopf von „UkrainPride“, einer Organisation für die Rechte von Lesben, Gays, Bisexuellen, Transmenschen und Queers (LGBTQ) in der Ukraine.

Sofiia Lapina

Kristina Borhes

Sofiia Lapina

Wie wichtig diese Rolle von Clubs in der ukrainischen Gesellschaft ist, belegen Statistiken: Die Ukraine gilt als eines der homophobsten und transphobsten Länder Europas. Beim Rainbow Europe 2021 Ranking, einer Bewertung der Staaten Europas nach ihrer LGBTQI*-Freundlichkeit, belegt die Ukraine nur Platz 39 von 49. Gender Diskriminierung ist vor allem bei der älteren Bevölkerung verbreitet und Attacken auf die LGBTQI*-Community sind keine Seltenheit. Vlad Shast, der selbst als queerer Performer in Kiews Clubs auftritt, wurde schon des Öfteren Opfer dieser Angriffe. Fotos von ihm, versehen mit Aufrufen zur Gewalt, kursieren regelmäßig in rechtsextremen Internet-Foren. „Man lebt hier oft mit dem Gedanken, eine Zielscheibe zu sein“, erklärt Shast.

Den Grund für die anhaltende LGBTQI*-Feindlichkeit sieht Sofiia Lapina von „UkrainPride“ vor allem in der Geschichte des Landes. Ein großer Teil der Bevölkerung ist noch in der bis 1991 bestehenden Sowjetunion aufgewachsen. Dort herrschte das Prinzip der Gleichheit. Raum für Individualität oder gar sexuelle Entfaltung gab es nicht. Doch die Zeit bringt Veränderung: „Die jungen Menschen denken tendenziell viel liberaler und fühlen sich Europa näher“, so Sofiia Lapina. In den neuen Clubs der Stadt könne man nun endlich so sein, wie man ist, „ohne Angst haben zu müssen, beschimpft und diskriminiert zu werden.“

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„We dance together & we fight together”

In anderen Ländern Osteuropas, die wie die Ukraine nicht unbedingt für ihre LGBTQI*-Freundlichkeit bekannt sind, ist ein ähnlicher Hype um die Technoszene zu beobachten. Ob im erzkonservativ regierten Polen oder im christlich orthodoxen Georgien: Die Techno-Kultur mit ihren Safe Spaces wächst auch in diesen Ländern rasant und wird nicht selten zum Feindbild konservativer Politik. „Während Clubbing an vielen Orten der Welt heute völlig normal ist, hat es woanders noch eine politische Dimension“, meint Laurent Garnier, der als DJ viel in Osteuropa unterwegs war. Raven bedeute hier mehr als bloß sinnfreien Hedonismus, es sei oft ein politisches Statement. „We dance together & we fight together“, ein Graffiti vor den Toren des neuen Berghains in Kiew bringt es auf den Punkt.

Man werde weiter feiern, laut sein, bunt sein, bis ganz Kiew ein Safe Space ist. „Es ist nur eine Frage der Zeit“, meint Sofiia Lapina voll Zuversicht.

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