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Dänische Landschaft mit Leuchtturm

Julian Hacker/Pixabay

Wenn Sally Rooney Schmäh hätte ...

... würden sich ihre Bücher vielleicht wie der Roman „Meter pro Sekunde“ der dänischen Schriftstellerin Stine Pilgaard lesen. Eine Empfehlung.

Von Lisa Schneider

Manche US-amerikanischen Bestseller erscheinen aktuell noch vor der englischen Originalausgabe in deutscher Übersetzung. Umso verwunderlicher, dass vor allem europäische Literaturschätze - wie es etwa vor einem Jahr die erstmals vollständig ins Deutsche übersetzte „Kopenhagen-Triologie“ von Tove Ditlevsen war - erst nach einigen Jahren Anlauf auch in österreichischen und deutschen Buchhandlungen zu finden sind. Tove Ditlevsen wurde 1955 mit dem „Goldenen Lorbeer“, dem wichtigsten dänischen Debütpreis, ausgezeichnet. Diesen hat 2020 auch Stine Pilgaard für ihren Roman „Meter pro Sekunde“ erhalten. Die deutsche Ausgabe ist soeben im Berliner Kanon Verlag erschienen, der auch gerade dabei ist, die früheren Romane der dänischen Schriftstellerin ins Deutsche übersetzen zu lassen.

Stine Pilgaard

Alexander Banck-Petersen

Stine Pilgaard (*1984) ist Absolventin der Danish Writer’s Academy und der Universität Kopenhagen. Für ihren Roman „Meter pro Sekunde“ wurde sie mit dem „Goldenen Lorbeer“, dem wichtigsten dänischen Debütpreis, ausgezeichnet. Im Kanon Verlag soll 2023 auch ihr Debütroman „Meine Mutter sagt“, erscheinen. Er war in Dänemark ebenfalls ein großer Kritiker*innen- und Publikumserfolg.

Neuer Ort, neues Glück?

In „Meter pro Sekunde“ geht es um eine junge Familie, die aufs Land zieht. Genauer gesagt nach Velling, Westjütland, ins „Land der kurzen Sätze“. Die hiesige Dorfgemeinschaft in Dänemark ist nicht redefaul, aber eben kompakt im Umgang mit Wörtern. Gespräche übers Wetter oder diverse Wolkenformationen legen da durchaus auch mal seelische Abgründe frei. Der kleine Sohn der Ich-Erzählerin passt sich ungefragt am schnellsten an. Er kommentiert wochenlang alles mit einem mal nachdenklichen, mal fordernden: „Muh!“

In Velling wird nach altruistischem Prinzip und vor allem nachhaltig gelebt (und ist damit idealistisch gar nicht so weit entfernt von diversen innerstädtischen, woken Soziotopen). Die Einwohner*innen schauen aufs Klima, es wird nichts verschwendet, das Gemüse selbst angebaut und Müll getrennt - sofern überhaupt vorhanden. Der Partner der Ich-Erzählerin bekommt einen Platz als Lehrer an der Heimvolkshochschule, deshalb ist die Familie überhaupt erst dort gelandet, in der wunderschönen Einöde.

Diese dänischen Heimvolkshochschulen, lässt uns Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel im Anhang wissen, sind nicht-staatliche Institutionen, die auf Volksbildungsbemühungen des 19. Jahrhunderts zurückgehen. Sie werden vor allem von jungen Menschen zwischen Matura und Studium besucht, als Jahr der persönlichen und fachlichen Orientierung. Im Roman „Meter pro Sekunde“ sind nicht nur die Lehrer*innen eng an Aktivitäten, Struktur und Duktus der Schule gebunden - auch ihre Angehörigen sind aufgefordert, sich zu engagieren. Das Dorf im Dorf.

„Liebe Frau eines Korinthenkackers ...“

Neben gemeinsamen Kochtagen oder Gartenfeiern findet die Ich-Erzählerin eine weitere Aufgabe. Sie beginnt, als „Kummerkasten“ für die Lokalzeitung zu schreiben. Die Leser*innenbriefe, vor allem aber ihre kurzen, klugen und scharfsinnigen Antworten sind die erzählerischen Höhepunkte in einem Roman, in dem es fast nur Höhepunkte gibt. Eine Leserin ist unglücklich, weil sie immer wieder auf denselben Typ Mann reinfällt. Sie unterzeichnet ihre Einsendung mit „Liebe Grüße, eine Märtyrerin“. Der Kummerkasten antwortet:

„Liebe Märtyrerin, bestimmte Typen erzählen immer, was für ein Typ sie sind. Sie sind nie der Typ, für den sie sich selbst halten. Wenn Leute sich selbst definieren, geben sie dadurch nur ihre größten Wünsche oder ihre tiefsten Ängste preis. Institutionen, die sich selbst untersuchen, sollte man nie vertrauen."

„Es soll ja hier nicht um mich gehen“, betont die Ich-Erzählerin in ihren Kummerkasten-Antworten mehrmals, aber charmanter- und ironischerweise tut es das natürlich schon. Die Einblicke in ihre Erlebnisse und Erkenntisse machen nicht nur die Antworten spannender - sie bieten durch die schriftliche Verbindung zu weiteren Personen auch die Möglichkeit, die erzählerische Enge der Dorfgemeinschaft aufzubrechen. Ein Leser bittet um Rat, er will seine Freundin nicht wegen seiner Negativität und Anhänglichkeit vergraulen. Der Kummerkasten:

„Lieber Klotz am Bein. Die wichtigste Aufgabe in einer Paarbeziehung besteht darin, den eigenen Selbsthass zu zügeln. Das Schöne an der Liebe unserer Liebsten ist, dass sie unsere Sorgen wie kleine Geschenke annehmen. Danke, sagen sie und tragen sie davon, als würden sie zu ihrer eigenen Dunkelheit gehören. Darum kann Liebe so schön sein."

Muss sie aber natürlich nicht immer. Die Ich-Erzählerin ist eine junge, sehr müde Mutter. Ihr fürsorglicher, geerdeter, von seinen Schüler*innen umschwärmter und von Zwängen geplagter Freund, der auch zuhause gerne den Lehrer raushängen lässt, treibt sie mitunter in den Wahnsinn. Aber sie hat ihre Wege.

„Es ist eine Überlebensstrategie, und es ist mein gutes Recht. Ich singe ein Lied, das er kennt, ersetze dabei ein kleines Wörtchen durch ein anderes, das fast passt, aber ein bisschen daneben ist. Alle meine Gänschen, singe ich, mein Sohn klatscht mit, mein Liebster blickt betrübt aus dem Fenster, und mir fällt auf, dass er später am Tag eine Sammlung Kinderlieder aus dem Netz downloadet. Schwer zu sagen, ob das ein stummer Tadel sein soll, oder ob er einfach nur das Wort Entchen hören muss, damit er heute Nacht einschlafen kann.“

Ähnlich lakonisch geht die Ich-Erzählerin auch an die Umdichtung der vielgesungenen Volkshochschullieder heran, neben den Kummerkasten-Einschüben sind die Kapitel durch neue Liedtexte getrennt. Und diese wurden auch tatsächlich in die neueste Ausgabe des dänischen Gesangsbuches aufgenommen. Singbar auf die Melodie von unser aller Lieblingslied „Atemlos durch die Nacht“ könnte man jetzt demnach folgende Zeilen mitträllern:

„Und der Wind saust uns
Ungebremst, keine Kunst
Wenn die andern achtzig fahr’n
Fahr’n wir neunzig, kein Schmarrn“

Buchcover Stine Pilgaard "Meter pro Sekunde"

Kanon Verlag

Stine Pilgaards Roman „Meter pro Sekunde“ erscheint in der deutschen Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel im Kanon Verlag.

Wer über sich selbst lachen kann

Stine Pilgaard hat mit „Meter pro Sekunde“ einen Roman geschrieben, der auf eine sehr gute Weise komisch ist. Die Weise nämlich, die auf Empathie statt auf Zynismus setzt. Die Protagonistin ist ein Mensch, der sich über etwas lustig machen kann, ohne es ins Lächerliche zu ziehen. Sie schreibt über alltägliche Ärgernisse (wie etwa ihren Verschleiß an Fahrlehrer*innen) und ihre Situation als junge Mutter. Darüber, wie Eltern plötzlich zu Konkurrent*innen werden und darüber, wie sie sich abends, wenn das Kind endlich, endlich schläft, Rachefantasien ausdenkt („In einem Aufblitzen reiner Bosheit wünschten wir ihm ein gesundes, schönes Kind, das nie schlief.“) Wer außerdem richtig gute, unsentimentale Lebensweisheiten mag, ist bei „Meter pro Sekunde“ ebenso richtig: „Freundschaften entstehen aus Notwendigkeit, sie sind wie ein Straßengraben, wenn man pinkeln muss“.

Die zeitlose Schärfe und der trockene Humor von Stine Pilgaards Beobachtungen müsste Menschen gefallen, die sonst gerne die Texte von Fran Leibowitz oder Nora Ephron lesen - auch, wenn die Lebensrealität ihres Romans eine andere ist als die der New Yorker 80er- und 90er-Jahre (da wären wir aber wieder bei „zeitlos“). Hätte die Meisterin der millenial’schen Zwischenmenschlichkeiten Sally Rooney ein bisschen Schmäh, würde sie so klingen wie Stine Pilgaard.

Am Ende der sehr kurzweiligen Lektüre, man denkt an das herrliche Bild der Protagonistin, die mit der Zigarette in der Hand vor dem Fitnessstudio steht, sitzt man fast völlig glücklich da. Schön wär’s nur, auch so einen Kummerkasten zur Verfügung zu haben. Kleiner, oder großer Trost: 2023 erscheint der Debütroman „Meine Mutter sagt“ von Stine Pilgaard ebenfalls im Kanon Verlag.

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