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Caribou Gasometer in Silhouette

© Radio FM4 / Franz Reiterer

My own private Odessa

Hinfallen, Maske richten, weitermachen: Caribou plus Band erinnerten im Wiener Gasometer einen Abend lang an Zeiten, die es nicht mehr gibt.

Von Katharina Seidler

Konzerte, wisst ihr noch? Kleine Portale in andere Welten. Zum Einen natürlich Durchgänge im Wortsinn: Tickets suchen, Was ist nochmal der richtige Ubahn-Ausgang beim Gasometer?, sich wundern über fehlende 3G-Kontrollen am Eintritt (kennt sich wer aus mit den aktuellen Regelungen in der Stadt?), Jacke abgeben, an der Bar anstellen, Freunde suchen, Bekannten winken, sich erinnern: So ging das alles.

Zum Anderen öffnet ein gemeinsamer Abend, mit hunderten Menschen, mit Musik, die nicht aus Laptoplautsprechern kommt, mit Schweiß und Tränen (ja wirklich) ein Tor in eine temporäre, utopische Zone. Eineinhalb Stunden lang wird ein Raum zu einer Insel der Seligen, und doch wäre es vermessen, diesen Ort als abgekoppelt von der echten Welt aufzufassen. Die Tür geht ja nach beiden Seiten auf, wir einigen uns insofern lediglich auf eine gemeinsame Auszeit. Vor dem Losgehen streamen wir die ZIB und aktualisieren in der U3 die Liveticker der Zeitungen. Draußen Odessa, die bedeutendste Hafenstadt der Ukraine, die derzeit Straßensperren errichtet und ihre Statuen mit Sandsäcken einpackt. Drinnen „Odessa“, nach wie vor Herzstück aus Dan Snaiths Jahrzehntealbum „Swim“, dessen Zusammenhang von Titel und herzzerreißendem Inhalt über eine bevorstehende Trennung eigentlich nie erklärt wurde.

„Odessa“ ist auch heute, zwölf Jahre nach dem Release, nichts weniger als fünfminütige Popmusik-Perfektion. Der Bass platzt als dicke Farbtupfer in den torkelnden Rhythmus, oben kreischen Synthmotive wie exotische Vögel, die Cowbell bimmelt um ihr Leben. Irgendwann greift Dan Snaith zur Blockflöte, auch live an diesem Abend, an dem „Odessa“ prominent an früher Stelle in der Setlist auftaucht. Wie sollte die Band den Spagat zur titelgebenden Stadt auch nur annähernd in eine Zwischenansage packen? Who knows what she’s gonna say? Snaith weiß um die Unmöglichkeit und begnügt sich daher mit schüchternem Lächeln und einzeln verstreuten Thank yous an das Publikum für das jahrelange Warten auf dieses Konzert. Kollektives Taumeln ins Licht, auch für die Musiker, die an diesem Abend in einheitlich weißen Outfits und Socken wahlweise aussehen wie Krankenpfleger oder wie „das, was am nächsten an die säkulare Vorstellung eines Engels herankommt“ (© Natalie Brunner).

Einen Abend lang stoßen Caribou und seine Bandkollegen an diesem Mittwoch, Tag 4 nach den weitreichenden Öffnungsschritten im Land, Tag 1 des Aussetzens der Impfflicht, Tag 13 im Ukrainekrieg, ein Erinnerungsfenster in bessere Zeiten auf. Der grenzüberschreitende Kammerpop-, Disco-, House-, Kraut-, Psychedelik-, sogar Postpunk-Amalgam von Acts wie Junior Boys, Erlend Oye, LCD Soundsystem, Four Tet und natürlich Caribou wehte wie frischer Wind über die Dancefloors von Indiediscos und Houseclubs gleichermaßen. Unser größtes Problem waren vielleicht Menschen, die beim Konzert genau im Blick stehen, die Schlangen beim Bierkaufen, die zusammengewuzelten Taschentücherknödelchen im Ohr, wenn die Höhen doch ein wenig schmerzten. Zeiten, in denen G und P neben mir in der Menge standen, in Hotpants und rotweiß karierten Shorts, und ungelenke Tanzbewegungen machten.

Caribou weiß um all diese Diskrepanzen zur Jetztzeit und legt sein Konzert als seltsam anachronistische, gleichwohl warme, flauschige, leuchtende Comfort Zone an. Das Hitfeuerwerk zündet bei ihm quasi von selbst: „Sun“, „Never come back“, „Our love“, „Home“, „You can do it“, „Can’t do without you“. Das Schlagzeug ist auf der Bühne seiner zentrale Rolle als Rhythmuswunderkiste entsprechend in der Mitte aufgestellt. Dan Snaith selbst bedient eine Handvoll kleiner Synthesizer und ab und zu die Flöte. Ob er die Lyrics selbst ins Mikrophon haucht oder sie als Sample aus der Box abspielt, macht in seiner Musik keinen Unterschied. Sie zelebriert die ultimative Verschmelzung von Track und Song, von Medium und Message, und ihre Texte bestehen oft nur aus einem einzigen Wort oder einer Phrase, und zwar der wichtigsten: „Sun“, zum Beispiel, oder „Our Love“. Nicht mehr, und nicht weniger.

Irgendwann also geht auf der gigantischen Bühnenleinwand eine Sonne auf und die Silhouetten der Musiker nehmen sich klar vor dem Horizont aus. Auch das dazugehörige Mantra bahnt sich seinen Weg durch den Sounddschungel: „Sun“, und noch hunderte weitere Male: „Sun“, „Sun“, „Sun“, „Sun“, „Sun“. Eine Hoffnung und ein Wunsch, eine Erinnerung und hoffentlich auch: ein Versprechen.

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