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APA/STEFAN VOSPERNIK

Interview

Ukraine-Hilfe: eine Jahrhundertaufgabe

Millionen Menschen flüchten in diesen Tagen nach der russischen Invasion aus der Ukraine. Der Migrationsforscher Gerald Knaus sieht Europa vor einer Jahrhundertaufgabe - aber er stellt auch eine unglaubliche Hilfsbereitschaft fest.

Ein Interview von Lena Raffetseder

Lena Raffetseder: Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine hat eine riesige Fluchtbewegung begonnen. Wie schätzen Sie die Situation aktuell ein: wie viele Menschen werden aus der Ukraine flüchten müssen?

Gerald Knaus: In den letzten drei Wochen haben wir eine unglaubliche Situation gesehen: eine Million Menschen pro Woche, die die Ukraine verlassen mussten. Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass das so weitergeht. Denn die Menschen, die in den Städten - in Odessa, in Charkiw, in Kiew und anderswo - festsitzen, viele werden fliehen wollen bzw. müssen, wenn sie können. Das ist Teil der russischen Strategie: die Infrastruktur zu zerstören, die Wohnbezirke zu bombardieren. Und das bedeutet, dass die Europäische Union sich auch für die nächsten zwei Wochen bis Ende März auf nochmal zwei Millionen Geflüchtete einstellen muss. Dann wären wir bei fünf Millionen in einem Monat. Und das bedeutet, dass eine eigentlich unglaubliche Zahl von einem Viertel der Ukrainer, also 10 Millionen Menschen, als Flüchtlinge in den nächsten Monaten durchaus realistisch ist.

Inwiefern sind denn europäische Staaten auf eine so große Anzahl von Menschen vorbereitet?

Keine Gesellschaft, keine Verwaltung ist auf diese Jahrhundertaufgabe vorbereitet. So etwas gab es seit den Nachkriegsjahren nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr in Europa. Mit Schuldzuweisungen, was alles nicht klappt, werden wir in den nächsten Wochen nicht weiterkommen. Jeder ist überfordert. Die ukrainischen Botschaften, die Ausländerbehörden, die Städte, die Regierungen, die Ministerien, auch die Zivilgesellschaft. Aber nur gemeinsam ist so eine große Herausforderung zu bewältigen. Und was wir ja auch überall sehen, ist eine unglaubliche Empathie, also eine unglaubliche Anteilnahme, Hilfsbereitschaft, Bereitschaft, Menschen auch in die eigenen Häuser aufzunehmen. Und darauf lässt sich aufbauen.

Sie haben in den vergangenen Tagen gesagt: Es ist ganz klar auch das Kalkül von Wladimir Putin, Europa auf diese Art zu destabilisieren. Was meinen Sie damit?

Wladimir Putin hat sicherlich nicht vergessen, wie die Migrationsbewegungen 2015 in manchen europäischen Ländern zu Angst und zu Populismus führten, wie dann Freunde von ihm - Matteo Salvini, Le Pen, die AfD, die FPÖ, politische Verbündete des Kremls - stärker wurden in Europas Demokratien. Und er hat ziemlich sicher damit gerechnet, wenn eine Million oder zwei Millionen Ukrainer*innen kommen, dass dann die Europäische Union in Angst verfällt. Und das ist nicht passiert. Zum Glück, weil Europäer in den Medien oder auch einfach durch eigene Erfahrung sehen, was hier los ist. Ein Angriff auf eine Zivilbevölkerung, ein heroischer Widerstand und das Kalkül von Wladimir Putin, die Europäer gegeneinander, gegen die Ukrainer, untereinander, zwischen den Staaten in eine innere Krise und zum Streit zu führen - das ist ihm nicht gelungen. Und das wird ihm nicht gelingen, wenn in den nächsten Tagen die richtigen Entscheidungen getroffen werden, um etwas Ordnung auf europäischer Ebene in die Verteilung dieser Flüchtlinge zu bringen.

Wie hilft das Rote Kreuz vor Ort in der Ukraine und was macht Sinn, wenn du helfen willst? Wir haben im FM4 Interview-Podcast mit Martina Schloffer gesprochen, die beim Roten Kreuz im Bereich Internationale Hilfe arbeitet.

Sie sind mit Politiker*innen in Kontakt, was raten Sie denen aktuell?

Die Mobilisierung wird in jedem Land anders erfolgen. Da ist, glaube ich, das Wichtigste in den letzten 48 Stunden schon passiert, dass nämlich die Kommunikation an der Größe der Herausforderung angemessen ist. Was noch nicht passiert - und das ist auch schwierig - ist eine europäische Kooperation. Es braucht eine Koordinationsstelle, die einfach nur die ganzen Versprechen der Länder und Regionen zusammenfasst und dann sicherstellt, dass die Transporte mit Flugzeugen und mit Bussen bereit sind, Menschen, dorthin zu bringen, wo sie aufgenommen werden. Und diese flexible, aber politische und logistische Mammutaufgabe, die kann keine der bestehenden Behörden alleine stemmen.

Wo sehen Sie denn Potenzial, an welcher Stelle des koordiniert und organisiert werden könnte?

Ich habe mir viele Beispiele aus der Geschichte angeschaut, ähnliche Krisen und das effektivste in so einer Situation ist: alle Organisationen, die es gibt, machen ihre Aufgabe. Also große internationale NGOs, die Kommission, staatliche Organisationen. Aber wir brauchen eine Stelle die eine Koordinatoren-Funktion übernimmt, die auch kommuniziert, worum es geht, warum das wichtig ist. Das müsste man sofort einrichten und das hätte
den großen Vorteil, dass es nicht die Schwerfälligkeit hat von vielen etablierten Institutionen, die natürlich eine gute Arbeit machen, aber an in so einer Ausnahmesituation kaum flexibel genug sind.

Man hört jetzt auch oft Vergleiche zur Fluchtbewegung 2015. Haben wir da irgendwas gelernt, was uns jetzt hilft, die Menschen, die jetzt kommen, zu versorgen?

Die wichtigste haben wir bereits in die Praxis umgesetzt. Die Tatsache, dass alle, die in der Ukraine gelebt haben, in der Europäischen Union eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen, das ist ein großer historischer Schritt. Das zweite ist, dass wir gelernt haben, dass es nicht darum geht, irgendwelche Quoten zu beschließen. Es geht darum, die Empathie in den Gesellschaften und die Bereitschaft von Politikern dazu zu bringen, freiwillig zu sagen ‚Wir nehmen jetzt Leute.‘ Und das geht dann, wenn Menschen davon überzeugt sind, dass sie das tun müssen, also gegenseitig sich anspornen. Das dritte ist, glaube ich, auch in der Kommunikation die Schwierigkeit nicht herunter zu reden. Es geht es nicht darum, dass wir hier das europäische Facharbeitermangel Problem lösen. Die Menschen, die kommen, kommen nicht, um auszuwandern. Die brauchen zunächst mal nur Schutz. Es geht darum, dass wir Menschen helfen, denen wir in den letzten Jahren nicht helfen konnten. Wir haben versagt, den Krieg zu verhindern mit den Mitteln, die die Europäische Union hatte. Wir haben der Ukraine in dieser Stunde der Not nicht beistehen können. Aber das Mindeste, was wir jetzt tun, und das muss man ganz klar immer wieder kommunizieren, ist, denen zu helfen, deren Brüder, Väter, Söhne jetzt in der Ukraine für den Erhalt der Demokratie und des Staates kämpfen und dafür zu sorgen, dass diese Kinder, die schon so viel Dramatisches erlebt haben in den letzten drei Wochen, dass die das Gefühl haben, hier bei uns kümmert man sich um sie.

Sie haben jetzt auch wieder die Empathie angesprochen, wie hält man denn die über Wochen und Monate hinweg aufrecht?

Das Paradoxe ist ja, wenn Menschen Flüchtlinge kennenlernen, sind sie oft bereit, weiter zu helfen, weil das Ganze eben kein abstraktes Problem ist. Ich glaube, der Schlüssel liegt darin, jetzt möglichst schnell auf dieser Empathie aufzubauen. Wenn sich in Großbritannien innerhalb von einem Tag 80.000 Personen melden, die sagen, sie würden Ukrainerinnen aufnehmen, dann ist das ein Zeichen, dass es hier etwas gibt, auf dem man aufbauen kann. Und wenn Menschen erst mal da sind, dann entsteht auch nicht binnen Wochen das Gefühl ‚Jetzt wollen wir, dass die wieder in den Krieg zurückkehren.‘ Im Gegenteil, dann wird die ukrainische Sache auch etwas, was viele in Europa direkt betrifft, weil man dann Menschen kennt. Und so kann aus Empathie, Solidarität und aus Solidarität eine dauerhafte Hilfeleistung werden. Empathie alleine reicht nicht, aber Empathie und Organisation zusammen können Berge versetzen.

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