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Unsplash/Kai Pilger

Buch

Verkannte Leistungsträger:innen

Sie wurden als HeldInnen bezeichnet und zu Beginn der Pandemie regelmäßig beklatscht, denn sie halten den Laden am Laufen. Das Buch „Verkannte Leistungsträger:innen“ schaut sich die Arbeitswelten der SystemerhalterInnen genauer an.

Von Veronika Weidinger

Die Kassiererin im Supermarkt, die Pflegerin, der Paketbote oder die Reinigungskraft: sie alle garantieren den reibungslosen Ablauf unseres Alltags. Ihre Arbeit ist wichtig, sinnvoll und nützlich, aber als LeistungsträgerInnen werden sie gemeinhin nicht wahrgenommen. Das liegt daran, dass damit kein Wert im kapitalistischen Sinn generiert wird, schreiben Nicole Mayer-Ahuja und Oliver Nachtwey in der Einleitung zu ihrem Buch „Verkannte Leistungsträger:innen“. Aber sie legt die Basis dafür, wenn Kinder und Kranke betreut sind, die Versorgung mit Lebensmitteln und Gütern klappt. Auch während einer Pandemie, trotz Lockdowns und dem gesundheitlichen Risiko, dem sich die sogenannten „SystemerhalterInnen“ ausgesetzt haben beziehungsweise aussetzen mussten.

„Die neue Einsicht in die Systemrelevanz der Tätigkeiten, um die es in diesem Band gehen soll, diente hingegen vor allem als Argument dafür, den Zugriff auf die nun als unverzichtbar geltende Arbeitskraft auszuweiten.

Buchcover des Buchs "Verkannte Leistungsträger:innen"

edition suhrkamp

Die beiden SoziologInnen Nicole Mayer-Ahuja und Oliver Nachtwey haben den rund 400 Seiten starken Sammelband „Verkannte Leistungsträger:innen - Berichte aus der Klassengesellschaft“ (Suhrkamp Verlag) herausgegeben. Von der Pflegerin über den Lastwagenfahrer bis zur Frisörin geht es in den 22 Beiträgen verschiedener AutorInnen um Einblicke in zeitgenössische Arbeitsverhältnisse.

Der Applaus als Anerkennung und Motivation für die SystemerhalterInnen ist auch in Österreich wieder verstummt. Es war eine moralische Aufwertung, die aber nicht zu einer substantiellen Verbesserung der Arbeitsverhältnisse geführt hat, heißt es im Buch.
Mit fortdauernder Pandemie haben gerade diese Menschen statt Respekt die gereizte gesellschaftliche Stimmung abbekommen. Wer gefrustet war und nur für die notwendigsten Wege aus der Wohnung durfte, nutzte nicht selten den Einkauf, um Dampf abzulassen.

„Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“

In ihrer Einleitung beschreiben Nicole Mayer-Ahuja und Oliver Nachtwey für den deutschsprachigen Raum eine Politik, die in den letzten Jahrzehnten die Vermögen nicht besteuert, aber die Budgets für öffentliche Dienstleistungen reduziert hat. Soziale Sicherungssysteme wurden beschnitten und der Druck auf Arbeitslose erhöht. „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“, so Franz Müntefering 2006, da war der Sozialdemokrat gerade Arbeitsminister. Diese Politik führt dazu, dass sich selbst für den unattraktivsten Job jemand findet.

Seit den 1980ern, so die beiden WissenschafterInnen, hat die soziale Ungleichheit wieder zugenommen; die soziale Mobilität stagniert und der Anteil prekär Beschäftigter hat zugenommen. Sollten so manche den Begriff „Klasse“ bereits als überholt und gestrig verräumt haben, in diesem Buch ist er relevant, es heißt im Untertitel auch „Berichte aus der Klassengesellschaft“.

Friseurin angeschnitten auf der rechten Bildhälfte, Kundin mit langen Haaren von hinten

Unsplash/Giorgio Trovato

„Die Beschäftigten, die hier portraitiert werden [..] ihre Einkommen sind in der Regel gering, genauso wie ihr Sozialprestige. Sie haben nur wenig Chancen, ihre gesellschaftliche Position zu verbessern, egal wie sehr sie sich anstrengen. Und sie erfahren in ihrem Arbeitsalltag ein hohes Maß an Disziplinierung, Arbeitsverdichtung und Kontrolle.“

1 Million Menschen arbeitet in Österreich in sogenannten systemrelevanten Berufen, so der Arbeitsklimaindex der Arbeiterkammer Oberösterreich.

Was dieses Buch interessant und wichtig macht, sind Einblicke in verschiedene Branchen. Das Herzstück der Texte bilden jeweils die Sequenzen aus Interviews mit SaisonarbeiterInnen, PaketzustellerInnen, FernfahrerInnen, ebenso FriseurInnen, Reinigungskräften und PflegerInnen. Viele Frauen kommen zu Wort, viele Menschen mit migrantischem Hintergrund - manche arbeiten prekär, andere sind fix beschäftigt, dabei überfordert und ausgelaugt; alle eint, dass sie den Wert ihrer Arbeit kennen, die Wertschätzung durch die Gesellschaft aber fehlt, ideell wie finanziell.

Die Strukturen gesellschaftlicher Arbeitsteilung sind stabil und für den Einzelnen schwer zu überwinden, schreiben Mayer-Ahuja und Nachtwey in ihrem Buch, aber „auch sie sind nicht in Stein gemeißelt.“

Ein Grundtenor, der sich durch viele der Texte zieht: Veränderung ist möglich, vor allem, wenn Menschen beginnen, sich zu organisieren.

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