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Waldbrand über einem See

CC0 via Pixabay

Jens Liljestrand hat den besten Roman zur Klimakrise geschrieben

2022 ist der Sommer, in dem sich die Klimakrise nicht mehr ausblenden lässt: Dürren im Großteil Europas, ganze Flüsse trocknen aus, und überall brennt der Wald. Jens Liljestrands Roman „Der Anfang von morgen“ beinhaltet all das, ist aber nicht nur deshalb der Roman der Stunde, sondern auch, weil er all die Auswirkungen so plastisch und erschütternd zeichnet - und das unglaublich fesselnd.

Von Simon Welebil

Jetzt brennt der Wald sogar in Schweden, das die Klimakrise bisher recht gut ausblenden konnte. Der mittelalte PR-Berater Didrik und seine Familie, die den Sommer in ihrem Haus am See verbringen, folgen der Aufforderung der Behörden, die Gefahrenzone zu verlassen, nur recht zögerlich. Noch begreifen sie den außer Kontrolle geratenen Waldbrand mehr als ein Abenteuer denn als existentielle Bedrohung. Bevor sie ins Elektroauto steigen, macht Didrik noch ein Selfie vor den näher kommenden Rauchsäulen und postet es auf Social Media mit dem Text: „Da hinten im Wald brennt es. Zeit sich davonzumachen – jetzt sind wir auch Klimaflüchtlinge. Traurig, aber wahr #climatechange“

Likes und Kommentare trudeln ein, ein Radiosender ruft wegen eines Interviews an, das der selbstverliebte Didrik selbst im Stress des Aufbruchs nicht ablehnen will. Er ist ja auch reflektiert und erzählt der Journalistin, dass Schweden vielleicht genau so ein Ereignis brauche, um aufzuwachen und zu verstehen, auf welchem Weg wir in der Klimakrise seien. Er nennt Beispiele aus aller Welt, wo die Klimakrise schon Millionen Opfer gefordert habe.

Wenn die Klimakrise auch zu dir kommt

Doch dann läuft die Evakuierung nicht nach Plan. Das Elektroauto will nicht anspringen und Didrik und seine Familie werden in den Horror der Klimakatastrophe für alle hineingezogen: Die ländliche Bevölkerung Mittelschwedens flieht vor den riesigen Waldbränden und den drohenden Versorgungsengpässen in die großen Städte im Süden. Die wiederum riegeln sich vor dem großen Ansturm ab. Der Verkehr bricht zusammen, es entstehen Konflikte um Lebensmittel, Wasser und Medikamente, Krawalle brechen aus. Währenddessen radikalisiert sich auch die Klimabewegung und geht von Demonstrationen zu Sabotageakten über.

Buchcover von Jens Liljestrands Roman "Der Anfang von morgen". Rote Flammen ziehen sich über das Cover

S. Fischer Verlag

„Der Anfang von morgen“ von Jens Liljestrand ist von Thorsten Alms, Karoline Hippe, Franziska Hüther und Stefanie Werner aus dem Schwedischen übersetzt worden und im S. Fischer Verlag erschienen. Hier gibt es eine Leseprobe.

Der Autor lässt die Ereignisse in Schweden im Lauf von nur einer Woche eskalieren. Erzählt werden sie von vier Personen. Da ist ebenjener Didrik, früher ein Umweltaktivist, der jetzt für große Unternehmen arbeitet, Melissa, eine fatalistische Influencerin, die sich vor dem Untergang der Menschheit keine Vorschriften mehr machen lassen und stattdessen das Leben genießen will, André, ein Promi-Sprössling, der sich im Aktivismus radikalisiert und Didriks selbstsüchtige 14-jährige Tochter Vilja. Sie sind über verschiedene Weisen miteinander verbunden.

„Gewöhnt euch dran!“

Keiner der vier Erzähler*innen ist durchgehend sympathisch, alle haben Defizite, was eine Identifikation schwerer macht, aber ihre Stimmen - die der deutsche Verlag von jeweils eigenen Übersetzer*innen bearbeiten hat lassen, ein Glücksgriff! - liefern ein vielfältiges Bild. Von der Empörung über die Aufstände und die mangelnde Vorbereitung der Behörden, obwohl die Ereignisse ja vorhersehbar gewesen wären, bis zur Empörung und Wut über die Reichen und deren „Freikarten“ in der Klimakrise und Pseudoklimaschutz ist alles dabei.

Jens Liljestrand schreibt als Journalist schon seit Jahren über die Klimakrise und die Folgen für uns Menschen, was er nun in Romanform gegossen hat. An vielen Stellen ist der Roman unangenehm, wenn man eigene Verhaltensmuster darin wiedererkennt, in anderen augenöffnend, wenn er etwa klarmacht, wie leicht man die Klimakrise verdrängen kann, solange sie nur die anderen betrifft. All das ist bei Liljestrand aber nie aufdringlich. Er verpackt Fakten in einen Roman mit unglaublich fesselnder Handlung, dessen über 500 Seiten keinen Moment zu lang erscheinen.

„Gewöhnt euch dran“ ist der Schlachtruf der Klima-Aktivist*innen, der nach einem Dürresommer 2022 jedenfalls lange nachhallt. „Oder auch nicht“, hört man Didriks Stimme, „denn es wird immer nur noch schlimmer und schlimmer und schlimmer und eines Tages wirst du dich nach diesem Sommer zurücksehnen.“

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