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Édouard Louis’ „Anleitung ein anderer zu werden“

Édouard Louis ist eines der Geburtstagskinder des Monats: Er wird diesen Oktober gerade einmal dreißig Jahre alt und ist heute ein Superstar der französischen Literatur. In „Anleitung ein anderer zu werden“ zitiert er sich selbst und erzählt von der Kraftanstrengung radikaler Veränderung.

Von Maria Motter

Édouard Louis erklärt sich erneut der Welt. Für alle, die noch nichts von ihm gelesen haben, ist „Anleitung ein anderer zu werden“ kein gutes Einstiegsbuch, um annähernd zu erfassen, was es mit diesem Autor auf sich hat, weil Louis sich hier schon selbst zitiert. Es ist sein fünftes Buch. Édouard Louis ist jung und schwul und schreibt in einer punktgenauen Sprache von sozialer Ungerechtigkeit und Klassengewalt.

Jetzt geht es um seine Jugendjahre und ums Erwachsenwerden, ohne dass die eigenen Eltern als Vorbild für ein eigenes Leben akzeptiert werden könnten, und doch sind sie bei aller Abkehr präsent als Orientierungspunkt: Wie weit hat sich Édouard Louis von seiner Familie entfernt? Auf dem Programm steht in „Anleitung ein anderer zu werden“ die radikale Veränderung vom Haaransatz bis zum Klassenwechsel ins Bildungsbürgertum. Von den Teenie-Jahren als Arbeiterkind am Gymnasium mit einer besten Freundin aus bürgerlicher Familie, die er am liebsten gegen seine getauscht hätte, bis zur Eliteuni mit 26 erstreckt sich die Erzählung auf 270 Seiten.

Louis reflektiert erneut schonungslos sein bisheriges Leben: Fame und Fortune haben nichts mit dem Aufwachsen in einer Familie, die von finanzieller Armut geprägt ist, gemein. Brutal gesprochen: Ein Unterschichtskind räumt auf mit den Verhältnissen und verweist mit der intimsten Geschichte auch über sich hinaus.

Édouard Louis

Christian Werner

Mit 21 hat er sein erstes Buch „Das Ende von Eddy“ auf dem Markt, 300.000 Exemplare davon werden in den Monaten nach dem Erscheinen gekauft. Mit 25 preist ihn die New York Times. In Interviews kritisiert er die Politik des französischen Premierministers Emmanuel Macron.

Er arbeitet an sich selbst die gesellschaftlichen Zustände ab, weil er sie am eigenen Leib erfahren hat. Darum steht er auch im Zentrum. Es ist ein mitreißendes autobiografisches Erzählen, das die Gegenwart erfasst.

Wenn ein reicher Mensch ihn mit Weinglas in der Hand auf ein Sofa neben sich bittet, ihn zugleich aber zur Achtsamkeit mahnt mit Verweis auf das Eisbärenfell, mit dem das Sofa bezogen ist, verschlägt es ihm in der Erinnerung die Sprache, erzählt Édouard Louis, und zwar viel später als in dem Moment, und zwar dann, als er bei einem seltenen Besuch bei seinem Vater in der Tür steht. Für die Hässlichkeit und die Brutalität der Welt hätte er damals keinen Maßstab in sich gefunden, hält Louis fest.

In der nordfranzösischen Provinz ist er mit Hunger und Scham aufgewachsen, drangsaliert und verachtet für sein Schwulsein. Er rettet sich in Bibliotheken, weil er dort in Ruhe gelassen wird. Der Vater trank, ein Arbeitsunfall zerschmetterte seine Wirbelsäule, die französische Politik machte den Fabrikarbeiter zum Straßenfeger. „Wer hat meinen Vater umgebracht“ heißt der schmale Band in der deutschsprachigen Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel, in dem Louis die Politiker beim Namen nennt, die für Menschen wie ihn über Leben und Tod entscheiden. Der deutsche Theatermacher Thomas Ostermeier adaptierte „Wer hat meinen Vater umgebracht“ mit dem Autor für die Bühne und auf der Bühne: Édouard Louis feierte mit dieser Solo-Show - „beeindruckende Darbietung, sehr klug gemacht in ihrer Schlichtheit, die ganz außergewöhnlich zu Herzen geht“, so die Nachtkritik - im Vorjahr Premiere.

Das Leben seiner Mutter fasste Louis in „Die Freiheit einer Frau“ kurz, das Cover zeigt das Selfie einer jungen Frau: „Alles hat mit einem Foto angefangen. Ich wusste nicht, dass es dieses Bild gab und ich es besaß - wer hat es mir gegeben und warum?“, so beginnt der schmale, umwerfende Band. „Im Herzen der Gewalt“ rekonstruiert die Geschehnisse einer grauenhaften Nacht, es ist die Geschichte einer Vergewaltigung.

Louis schreibt kein Wort zu viel, seine Erzählweise ist punktgenau und selbst, wenn Billigflüge nach Barcelona, Supermärkte und Social Media vorkommen, wie in „Anleitung ein anderer zu werden“, ist sein Stil den Moden der Zeit enthoben.

Édouard Louis "Anleitung ein anderer zu werden" Cover

Aufbau Verlag

Édouard Louis: „Anleitung ein anderer zu werden“ ist 2022 im Aufbau Verlag in der deutschsprachigen Übersetzung von Sonja Finck erschienen.

Die Leben der Anderen

Die Jugendfreundin im bürgerlichen Elternhaus, das zum Ort der Kultivierung wird, bringt ihm bei, wie man Besteck zu halten habe, und nimmt ihn mit ins Programmkino. Deren Mutter tauft ihn mit einer Begrüßung um. Ein Liebhaber und Unterstützer schlägt wenige Jahre später vor einem Kellner vor, für ihn einen Zahnarzttermin zu vereinbaren. Es ist mehr eine Feststellung als eine Frage. Er habe doch so ein schönes Gesicht, da sei es doch schade, wenn die Zähne so schlecht wären. Mit achtzehn zieht Louis nach Paris, in eine kleine Wohnung, die der Mann ihm zur Verfügung stellt.

Jugendfreunde helfen beim Umzug, an einem halben Nachmittag ist alles erledigt und Louis denkt, das wird sein neues Leben. Da hatte er mit seiner besten Freundin Schluss gemacht und war dem Publizisten und Philosophen Didier Eribon gefolgt, den er bewundert und mit dem er sich angefreundet hat.

In „Anleitung ein anderer zu werden“ hält Louis fest, wie er andere nachahmt und er rechtfertigt sich dafür. Wehleidig ist dabei kein Satz. Die Kraftakte, die seine Emanzipation ihm abringt, schlagen sich körperlich und psychisch nieder, doch Louis muss das nicht eigens ausstellen.

Er trifft sich mit Reichen und wünscht sich, von einem Liebhaber adoptiert zu werden. Das Geld ist immer knapp. Er trainiert sich an, mit einer Mahlzeit am Tag auszukommen, prostituiert sich, arbeitet in Aushilfsjobs und ist zugleich doch Student einer Eliteuni. „Ich wusste noch nicht, dass die Hochschule, sobald ich dort studierte, für mich jede Bedeutung verlieren würde.“ Am Gang vor der Aufnahmeprüfung rufen sie seinen alten Nachnamen, Belleguelle - „hübsche Fresse“. Er spielte Schriftsteller zu sein, schreibt er an einer Stelle, dann wieder: das Schreiben sei die einzige Möglichkeit gewesen, sich noch einmal grundlegend zu verändern.

Die selbst gewählten Brüche in der Biografie schlagen sich in „Anleitung ein anderer zu werden“ formal nieder. Da sind auch offene Briefe an den Vater und die Jugendfreundin enthalten und Schwarz-Weiß-Fotos dokumentieren die Veränderung. So etwas wie Glück blitzt doch auch auf, vor allem aber beschreibt er die Freiheit von Angst, als Louis eine Nacht mit einem anderen Mann erinnert und versichert, es gab weitere dieser Begegnungen.

„Anleitung ein anderer zu werden“ trägt das Ich am Schluss gedanklich in die Kindheit und in die Welt zurück, die er hinter sich gelassen hat. Es ist Vermissen - im Wissen um schwer erträgliche Zustände. Als Einstieg in das bisherige Werk von Édouard Louis empfiehlt sich, beim Debüt „Das Ende von Eddy“ (2014) anzufangen.

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