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Neues Dry Cleaning Album "Stump Work"

Beggars

Scham und Haar - das neue Dry Cleaning Album „Stumpwork“

Heißer Sprechgesang von einer unterkühlten Band. Dry Cleaning und ihr zweites Album „Stumpwork“.

Von Christian Lehner

Dry Cleaning, euer Albumcover ist disgusting, wie ihr Briten zu sagen pflegt! Aber es ist irgendwie auch ästhetisch ansprechend. Was ist zu sehen? Eine nasse Seife und auf dieser Seife klebt der Titel des Albums „Stumpwork“. Kein Problem, bestünde dieser Schriftzug nicht aus Schamhaaren. „Die sind echt, also nicht digital eingepaust“, erzählt Dry Cleaning-Sängerin Florence Shaw. „Eine befreundete Künstlergruppe hatte die Idee und uns gefällt es sehr gut!“

In einer Zeit, in der sich das Konzept der Provokation im Pop in Gesten von Gewalt und Übersexualisierung erschöpft, überraschen Dry Cleaning mit einer Stilisierung des Alltags. Schamhaare in der Dusche, wer kennt das nicht? „Wir waren überrascht, welchen Ekel das bei Leuten auslöst. Das war nicht beabsichtigt“, so Schlagzeuger Nick Buxton.

Das irritierende Bild passt zu der Entstehung und Wirkung der Texte. Florence Shaw sammelt Eindrücke und ordnet sie gleichberechtigt nebeneinander an. Schlagzeilen, Gesprächsfetzen, innere Monologe, all das verdichtet sich bei Dry Cleaning zu einem Song über unsere Zeit.

Erleichtert um Refrain und Wiederholungen könnte man die Stücke zu einer durchgehenden, surrealen Erzählung verknüpfen. „Ich schreibe eigentlich die ganze Zeit“, so Shaw, „immer und überall – egal, ob ich gerade unterwegs bin oder an einem festen Ort. Es entstehen Fragmente, die am Mobiltelefon notiert und später in einer Feedbackschleife mit der Band mit der Musik verwoben werden.“

Neues Dry Cleaning Album "Stump Work"

Ben Cleaning

Die Songs auf „Stumpwork“ streifen Themen und Gegenstände wie Inflation, Plastikbecher, shitty politics, die Alpen, schlechten Sex, Entfremdung – auch ein Moped und ein Eisberg spielen eine Rolle. Das klingt beliebig, ist es aber nicht. Beim Zuhören fühlt man sich an eigene Beobachtungen und Empfindungen erinnert, meint diese Situation schon erlebt zu haben, ärgert sich über den selben Menschentypus. Das ist Chronik 2.0.

Alltag und Politics

Die Texte können von mehreren Seiten betreten werden. In dem Stück „No Decent Shoes For Rain” spricht Shaw: “Who are you? That’s right, you’re from the seventies I’ve got to travel back in time to stop this madness.”

Im Vorfeld war über die politische Ausrichtung des Songs zu lesen und man denkt sofort an die Figuren des aktuellen politischen Chaos im UK und an eine eiserne Politikone, auf die sie sich beziehen und deren Aufstieg in den 1970er-Jahren begann.

Aber es ist dann doch ganz und gar eine private Angelegenheit, die sich mit Familienaufstellung beschäftigt, wie Shaw im Interview erklärt. Selbst ein Stück wie „Conservative Hell“ nimmt das P-Wort nicht in den Mund. „Ich bin weder gut informiert, noch politisch im Detail interessiert“, sagt Shaw, „ich habe natürlich eine Meinung und eine Haltung, aber die kommt in den Texten nicht explizit zur Geltung.“

Zum Zeitpunkt des Interviews ist Liz Trusst noch Premierministerin. Als ich erwähne, dass sie bald Geschichte sein könnte, entfährt Nick und Florence ein tiefer Seufzer der Erleichterung.

Wortstickereien

„Stumpwork“, der Titel, ist ein Begriff, den es im Deutschen nicht gibt. Er beschreibt eine Sticktechnik, die dreidimensionale Muster und Schriften auf Textilien zaubert. „’Stumpwork’ ist ein Nischenwort, das den meisten Engländern nicht bekannt sein dürfte,“ sagt Shaw. „Ich mag das. Ich mag die seltsame Arbeitsweise, für die es steht und ich mag auch den Klang des Wortes.“

Neues Dry Cleaning Album "Stump Work

Ben Rayner

Dry Cleaning 2022 (vlnr) Tom Dowse (Gitarre), Lewis Maynard (Bass), Florence Shaw (Gesang), Tim Buxton (Drums)

Man hört das von Musiker*innen oft, und bei Florence Shaw verwundert es kaum, dass sie Sprache als Musik begreift. Ihr Vortrag ist monoton. Wenn man jedoch genauer hinhört, entdeckt man uneben betonte, oder zerdehnte Silben. Es ist ein Off-Beat, der die Semantik tanzen lässt, surreale Bilder erzeugt und den Begleittext des Lebens ins Absurde dreht.

Spoken Rock’n’Roll

Ihr Sprechgesang sei absichtslos, so hat Shaw es im FM4-Interview zum Debütalbum „New Long Leg“ erklärt. Die bildende Künstlerin, die vor der Bandgründung von Dry Cleaning im Jahr 2017 nichts mit Poesie oder Musik zu tun hatte, entdeckte ihn, nachdem sie bei der ersten Bandprobe das Mikrofon eingeschaltet und einfach drauflosgelegt hatte. Als Einflüsse nennt sie nicht den Sprechgesang der UK-Säulenheiligen Anne Clark oder Mark E. Smith, sondern jenen der Pet Shop Boys („West End Girls“) oder von Death In Vegas („Hands Around My Throat“).

Dass das Dry Cleaning Debüt “New Long Leg” im vergangenen Jahr auf Platz 4 in die UK-Albumcharts eingestiegen ist und dass Dry Cleaning Publikumslieblinge bei Festivals wie dem Primavera Sound in Barcelona waren, können Shaw und Buxton noch immer nicht glauben. Zu speziell sei ihre Musik für eine breitere Fanbasis, zu monoton für eine Live-Bühne. Doch das Publikum hat anders entschieden.

FM4 Interview Podcast

Christian Lehner hat mit Dry Cleaning Sängerin Florence Shaw und Schlagzeuger Nick Buxton über ihr neues Album „Stumpwork“ gesprochen. Zu hören ab sofort im FM4 Interview Podcast

Tom Dowse an der Gitarre, Lewis Mainyard am Bass und Nick Buxton am Schlagzeug weben für die Texte von Florence Shaw einen Soundteppich aus Post-Punk, Slacker- und Art-Rock und erweitern das Repertoire gegenüber dem Debüt um Trip-Hop und etwas reichhaltigere Arrangements. Trotz gleichbleibender Temperatur innerhalb den Songs tut sich in jedem Stück ein neues Wimmelbild von musikalischen und lyrischen Eindrücken auf.

Ob auch “Stumpwork” den Sprung in die Charts schafft, so wie das Debüt, bleibt abzuwarten. Hat man sich erst einmal am Plattencover vorbeigemogelt, bekommt man jedenfalls die heißeste unterkühlte Musik, die dieser Herbst zu bieten hat.

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