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Claassen Verlag

Iris Sayram schreibt deutsche Aufstiegsgeschichte

In ihrem Debütroman zeigt die deutsche Journalistin, mit wie viel Schmerz, Scham und Selbstverleugnung das Durchbrechen von Klassengrenzen verbunden ist. Ihr Roman „Für Euch“ macht aber nicht nur deutlich, wie hart der soziale Aufstieg in Deutschland sein kann, er erzählt auch die Geschichte einer Familie, die Liebe an die erste Stelle setzt – und so über andere Mängel hinwegsehen kann.

Von Melissa Erhardt

Köln in den 80er und 90er Jahren. Mitten im heutigen Apostelviertel, direkt neben dem hippen Belgischen Viertel, umgeben von Puffs und Bars, wächst Iris Sayram auf. Ihr türkischer Vater, Mustafa, wollte eigentlich politischer Karikaturist werden, landet schließlich aber als „Gastarbeiter“ in Köln. Mimi, ihre deutsche Mutter, schlägt sich währenddessen als Putz- und Klofrau in diversen Diskotheken durch.

Als der Vater seinen Job bei Ford wegen seiner Spielsucht verliert, reicht das Geld hinten und vorne nicht mehr. Die beiden beginnen sich anders zu helfen: Medikamente verticken, hier und da was mitgehen lassen – trotzdem: Für die Stromrechnung, Miete & Co. reicht es kaum. Iris soll davon aber nichts spüren, und so wechselt Mimi auf den Strich. Ausgesprochen wird das nicht.

Iris Sayram

Claassen Verlag

Iris Sayram ist Journalistin und Juristin. Ihr Debütroman „Für Euch“ ist am 27. 10. im Claassen-Verlag erschienen.

„Abends geh ich weiter zu Papa rüber, weil Mama ja „arbeitet“. Ich habe überhaupt keine Zweifel mehr daran, um was für eine „Arbeit“ es sich handelt. Ich habe es akzeptiert und versuche so gut es geht, das von mir wegzuhalten, nicht nachzudenken. Mit Papa rede ich ebenfalls nicht drüber“.

Das Gondeln zwischen Herkunfts- und Ankunftswelt

Soziale Aufstiegsgeschichten in literarischer Form – damit haben sich in der Romanwelt schon die Französ*innen einen Namen gemacht. Autor*innen wie die Nobelpreisträgerin Annie Ernaux oder Didier Eribon beschäftigten sich – als Aufsteiger*innen aus dem Arbeiter*innen-Milieu – in ihren Werken stark mit ihrer eigenen sozialen Herkunft. Literatur mit Klassenbewusstsein quasi. Denn: Egal wie verführerisch die utopische Vorstellung einer klassenlosen Gesellschaft auch sein mag - sie ist eben nicht wahr.

Mit wie viel Schmerz, Scham und Selbstverleugnung das Durchbrechen von Klassengrenzen verbunden ist, das zeigt Sayram in „Für Euch“ in kurzen, straighten Szenen und einer lockeren Sprache. Etwa, wenn sie zum ersten Mal mit einer neuen Gruppe an Unifreundinnen unterwegs ist. Eine von ihnen erzählt von einem Roman von Lily Brett, den sie in einer kleinen Buchhandlung in Uppsala entdeckt hatte, als sie dort gerade auf Erasmus war. Iris ist perplex.

„Sie klingt dabei kein bisschen überheblich, obwohl sie für meine Verhältnisse gerade mehrere krasse Infos transportiert hat: Sie kann sich ein Auslandssemester leisten. Sie hat neben der Uni Zeit zu lesen, muss also offenbar nebenher nicht jobben. Niemand am Tisch findet das ungewöhnlich. Und niemand fragt, wo scheiß „Uppsala“ sein soll? Ich komm mir vor wie ein Marathonläufer, der mit alten Holzklotschen versucht, an diesen leichtfüßigen Gazellen in ultramodernen Laufschuhen vorbeizukommen – nein heranzukommen. Ich kann einfach nicht mithalten, halte das Maul, gucke hier und da besonders mitfühlend und nicke an vermeintlich entscheidenden Stellen“.

Es ist das stetige Gondeln zwischen Herkunfts- und Ankunftswelt, zwei Parallelwelten, die durch einen anderen Ton, andere Gesprächsthemen und andere Verhältnisse strikt voneinander getrennt sind, das den harten Struggle aufdeckt und eine Menge Respekt für Sayram und ihren Mut übrig lässt, ihre eigene Geschichte so schonungslos offenzulegen. „Mein Kopf spielt Tennis – links, rechts, links und wieder rechts. Zuschauer halt, nicht Spieler“.

„Für euch“, hast du immer gesagt

Hinter der ganzen Aufstiegsgeschichte versteckt sich in „Für Euch“ aber vor allem eine Hommage an die Eltern, die – auch wenn es brenzlig wird – Liebe und Zusammenhalt immer an erste Stelle setzen. Dass sich dabei Scham und Gewissensbisse mit Stolz und Dankbarkeit im Sekundentakt abwechseln, macht Sayram sehr deutlich – gerade, wenn es um ihre eigene Mutter geht.

„Ich selbst war oft zu feige, zu mir zu stehen. Und was viel schlimmer war: Häufig war ich auch noch zu feige, zu dir zu stehen. Ich hab mich für dich geschämt. Geschämt, dass du anders ausgesehen hast, Angst davor gehabt, dass man dir ansehen könnte, was du beruflich machst. Dabei hast du viel Geld damit verdient und es im Überfluss gegeben. Dafür habe ich mich nicht geschämt. Dafür schäme ich mich heute.“

Heute ist Iris Sayram übrigens Journalistin bei der ARD und wohnt in einer über hundert Quadratmeter großen Dachgeschosswohnung im Berliner Prenzlauer Berg, zwei Terrassen inklusive: „All das ist für uns inzwischen nix Besonderes mehr. So lebt man halt, hat man halt“.

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