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Die drei Hauptdarsteller des Films "Sonne und Beton" lachen.

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Ruben Östlund pitcht uns was

Wen zeichnen Kristen Stewart und ihre Jurykolleg*innen mit den Berlinale-Bären aus? „Sur L’Adamant“ gewinnt den goldenen Bären für den besten Film. Große und kleine Momente der 73. Berlinale mit Steven Spielberg, Sydney Sweeney und Cate Blanchett.

Von Maria Motter

Es sei schon verrückt, sagt Kristen Stewart auf der Berlinale: Man kommt aus dem Kino nach einem Film und hat eine klare Haltung dazu, aber nach einem Gespräch mit einem Freund denke man manchmal auf einmal das Gegenteil dessen, was man zuvor gefühlt habe. Am liebsten schaue sie sich Filme mit Freunden an.

Kristen Stewart ist Jurypräsidentin dieser Berlinale und alle 19 Filme im Wettbewerb – darunter 5 Melodramen aus Deutschland – sind gelaufen. Auf welche Filme und welche schauspielerischen Leistungen sich die Jury einigen konnte und welche sie auszeichnet, wissen wir heute Abend.

Update: „Sur L’Adamant“ spielt in einer psychiatrischen Einrichtung und ist mit dem goldenen Bären für den besten Film ausgezeichnet! Der silberne Bär Großer Preis der Jury geht an Christian Petzold für „Roter Himmel“ und Paula Beer freut sich gleich riesig mit. „Lang lebe die Revolution im Iran!“, sagt Philippe Garrel, nachdem er für die beste Regie den silbernen Bären für „Le Grand Chariot“ bekam. Der silberne Bär für die beste darstellerische Leistung in einer Hauptrolle geht an das Kind Sofía Otero für die Call-me-by-the-name-I’ve-chosen-Kindheitssommergeschichte „20.000 especies de abejas“. „This performance blow our hair back“, sagt Kristen Stewart über Thea Ehres Spiel in „Bis ans Ende der Nacht“ - das ist der Silberne Bär für die beste schauspielerische Leistung in einer Nebenrolle.

Historisch betrachtet, werde jungen Frauen heutzutage eine Anerkennung zuteil, die sie zuvor nie hatten, stellt Kristen Stewart fest und sagt im nächsten Atemzug, dass sie seit ihrem zehnten Lebensjahr arbeitet. Kristen Stewart und ihre Jurykolleg*innen dürfen keinen der Berlinale-Bären, mit denen Gewinner*innen gewürdigt werden, ex aequo vergeben. Im Wettbewerb der Berlinale tritt der knallige Animationsfilm „Suzume“ gegen Schauspielarbeit an.

Kristen Stewart und Kolleg*innen erklären ihre Solidarität mit der Ukraine am roten Teppich der Berlinale.

Sandra Weller, Berlinale 2023

Kristen Stewart verurteilte Russlands Krieg gegen die Ukraine Freitagnachmittag gemeinsam mit der Berlinale-Leitung und Kolleg*innen am roten Teppich.

Die Berlinale gibt sich politisch. Sean Penn zeigte sein Selenskyj-Porträt „Superpower“, das in einem Jahrzehnt garantiert als historisch und anders betrachtet wird als heute. Bono von U2 wird in der wirr erzählten Doku „Kiss the Future“ als Lichtgestalt eines Konzerts in Sarajevo 1997 präsentiert. U2 stellen im Film klar, dass sie die Live-Schaltungen ins belagerte Sarajevo auf ihrer „Zooropa“-Tour (1992-1993) abbrechen mussten, weil sie mehr und mehr den Charakter von Reality Shows angenommen hätten. U2 wollten den Menschen in Sarajevo eine Stimme zur Welt geben, sie aber nicht auch noch ausnutzen. Bono hielt auf der Berlinale die Laudatio für Steven Spielberg, mit schlichten, aber schönen Worten.

Willem Dafoe wird von einer ukrainischen Journalistin gefragt, wie er sich für ihr Land und gegen Russland einsetze, weil er das ja im Vorjahr mit einer Performance gemacht habe. Dafoe fragt nach, welche Performance sie meine. Dafoe erinnert sich an die „Theater of War“-Produktion, für die er mit Kolleg*innen Szenen aus Sophokles’ „Philoktetes“ in einem YouTube-Livestream gelesen hat. Dafoes Genauigkeit ist ihm anzurechnen. Ich muss ständig an die Sekunde in „Kiss the Future“ denken, in der eine Aufnahme gefesselter Buben zu sehen ist. Die Kinder liegen zusammengekauert im Freien und im Voiceover wird das Massaker von Srebrenica vom 11. Juli 1995 kurz gestreift. Das ist verstörend.

Steven Spielberg hält seinen Berlinale-Ehrenbär hoch.

Richard Hübner, Berlinale 2023

Steven Spielberg mit dem Goldenen Ehrenbären

Auch E.T. ist da, als Steven Spielberg am roten Teppich der Berlinale Autogramme gibt: Das Stofftier wandert über die Hände der wartenden Fans einmal zum Regisseur und zurück zum Besitzer. Steven Spielberg wird sich im Berlinale Palast tanzend um die eigene Achse drehen, als laut geklatscht wird. Zuvor war es ruhig. Früher wäre laut gejubelt worden, sagt ein Journalistenkollege und ruft: Steven! Und der Regiemeister blickt in die Ränge, winkt und freut sich. An diesem Abend könne er sagen, er fühle sich zuhause in Deutschland. Spielberg verweist auf seine Shoa Foundation und die Zusammenarbeit mit deutschen Institutionen, um Filmdokumente Überlebender des nationalsozialistischen Terrors für zukünftige Generationen zu bewahren.

Ruben Östlund hat auf der Berlinale seinen nächsten Film gepitcht: „The entertainment system is down“ ist der Titel und das Programm. Die Geschichte wird auf einem Langstreckenflug spielen, auf dem zuerst das audiovisuelle Unterhaltungsangebot für die Passagiere ausfällt. Weiteres und erste Details hat der schwedische Regisseur dem „Berlinale Talents“-Publikum erzählt. Das macht er sehr gerne. Seinen dreifach oscarnominierten „Triangle of Sadness“ (Bester Film, beste Regie, bestes Originaldrehbuch) habe er circa 200 Mal gepitcht, sagt Ruben Östlund. Er lese auch immer soziologische Studien, um seinen Drehbüchern quasi ein reales Fundament zu geben. Seine Erzählung glitzert nur so vor Begeisterung über Ideen, die er oft aus eigenem Erleben zieht. Wer Zeit hat, hier entlang, weil Östlund auch gleich seinen übernächsten Film anteasert und erzählt, dass er viel mehr aus Publikumsvorstellungen zieht denn aus Premieren und Pressescreenings. In den USA wüsste das Publikum genau, dass es Teil der Vorführung sei.

Ruben Östlund am Set von "Triangle of Sadness".

Tobias Henriksson

Ruben Östlund am Set von „Triangle of Sadness“

An „Triangle of Sadness“ erinnern die ersten 25 Minuten von Brandon Cronenbergs Satire „Infinity Pool“. Darin schickt der Sohn von David Cronenberg ein Pärchen auf Inselurlaub in einen fiebrigen Albtraum. Der wird für die männliche Hauptfigur – einen Schriftsteller mit Schreibblockade, den Alexander Skarsgård verkörpert – und das Kinopublikum wie in Schleifen gesteigert. Für ein Verbrechen muss der Mann bezahlen: Statt selbst hingerichtet zu werden, wird für Touristen gegen Geld ein Double für die Exekution angefertigt. Mia Goth spielt in „Infinity Pool“ die personifizierte Verführung, die vor Langeweile im Urlaubsressort Sex und Gewalt initiiert.

Brandon Cronenberg hat erstmals mit einem Initimitätskoordinator gearbeitet. Mia Goth sagt in Berlin, dass sie Intimitätskoordinator*innen nicht unbedingt hilfreich findet. Wenn sie fragen müsse, ob sie einen Schauspielkollegen an der Schulter berühren dürfe, sei das viel komplizierter, als es einfach zu machen. Nur wenn es sich nicht richtig anfühle, wäre es gut, wenn jemand koordiniere. Trotz Body Horror, einigen Lachern, schön plastischem Kunstblut und -sperma ist „Infinity Pool“ spiegelglatt.

In „Sonne und Beton“ schaut das Publikum direkt in das Bubengesicht von Levy Rico Arcos, wenn er als Lukas die Treppen zur U-Bahn runterhetzt. Weg von der letzten Prügelorgie rivalisierender Gangs im Park in Gropiusstadt in Berlin. Die Kamerafrau Jieun Yi hat Bilder gemacht, die der rasenden Buchadaption von Felix Lobrecht und Regisseur David Wnendt vollends gerecht werden. Auf einmal hat der Bub Geld und holt sich aus der Tiefkühltruhe die Markenpizza heraus. Die billige Pizza schubst er zur Seite. Der Film „Sonne und Beton“ macht Umstände in Sekundenschnelle klar. „Sonne und Beton“ ist Felix Lobrechts gefeierter, erster Roman (2017 bei Ullstein erschienen).

Die Geschichte einer Kindheit in rauen Verhältnissen ist teils autobiografisch inspiriert, der heute 34-jährige Lobrecht ist in der Gropiusstadt im Berliner Stadtteil Neukölln aufgewachsen. „Diese Kiez- oder Problemviertelgeschichten kennt man ja sonst, wenn überhaupt, meist aus der Perspektive irgendwelcher Rapper. Das ist auch cool, aber Rapper neigen dazu, eigentlich immer zu erzählen, wie krass sie sind und wen sie aller geboxt haben“, sagt Felix Lobrecht auf der Berlinale. „Ich fand es spannend, aus dem Leben der Leute zu erzählen, die da ganz normal wohnen.“ Gewalt draußen und zuhause, Gewalt in der Sprache, Armut und soziale Spannungen sind die Betonpfosten im Leben der Hauptfiguren.

Felix Lobrecht ist heute einer der erfolgreichsten Comedians in Deutschland, und „Sonne und Beton“ inspiriert seit dem Erscheinen andere immens. Rapper schrieben Songs. Die Zeichnerin Oljanna Haus hat im ersten Lockdown eine ganze Graphic Novel aus dem Roman gemacht, und jetzt läuft der Film „Sonne und Beton“ über vier pubertierende Freunde, die eine dumme Idee in die Tat umsetzen, im Wettbewerb der Berlinale und ab kommender Woche schon in Kinos in Österreich.

Am überraschendsten und dabei überzeugend ist auf der 73. Berlinale das intensive Schauspiel von Sydney Sweeney (u.a. „Euphoria“) im komplett einnehmenden FBI-Protokoll-Kammerspiel-Thriller „Reality“ und Simon Baker (manche erinnern sich vielleicht: „The Mentalist“) als kaum wiederzuerkennender, drogensüchtiger Kriminalpolizist im australischen Wettbewerbsbeitrag und Schwarz-Weiß-Western „Limbo“ – gedreht in Coober Pedy –, der den Cold Case eines ermordeten, indigenen Mädchens erneut bearbeiten soll. Beide Filme sind umso besser, je weniger man über den Plot weiß. Das ist einer der großen Vorteile von Filmfestivals: Filme mit ganz frischem Geist zu sehen, zu denen es vielfach noch gar keine Trailer gibt.

Szene aus "BlackBerry" von Matt Johnson: Junge Programmierer in fröhlicher Freizeitkleidung.

Budgie Films Inc.

„BlackBerry“

Zweimal Zwischenapplaus gibt es vom Publikum im Zoo Palast für Matt Johnsons „BlackBerry“. Der Regisseur selbst hat eine der Hauptrollen und spricht immer wieder in Filmzitaten. Der Film über den Aufstieg zweier bester Freunde zu Geschäftsleuten, die das erste Smartphone in die Welt gebracht haben, ist zum Glucksen vor Lachen und zum Nachdenken über den Gegenstand, der unser aller Leben für immer radikal verändert. Und da geht schon die Türe auf zu „Tár“.

Sophie Kauer, Cate Blanchett, Nina Hoss vor der Berlinale-Premiere von "Tár".

Alexander Janetzko

Sophie Kauer, Cate Blanchett und Nina Hoss vor der Berlinale-Premiere von „Tár“

Die großen Stars dieser 73. Berlinale heißen klar Cate Blanchett und Nina Hoss. Über „Tár“ ist bald noch viel zu hören. Die Zeit titelt die Kritik mit „Frau. Macht. Musik“ und der Film selbst ist anders gestaltet als der Trailer. Das zweite dynamische Frauenduo dieses Filmfestivals ist Susanne Wolff und Sandra Hüller in Frauke Finsterwalders „Sisi und Ich“, das mitunter als Satire-Biopic kurzgefasst wird, aber man wird es im März beim Kinostart sehen: Da ist definitiv mehr drin.

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