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John Irving

© Basso Cannarsa/Opale/Leemage/

Wieso John Irvings Bücher lesen?

Wieso nicht? Ein Plädoyer, als ob er’s bräuchte. Soeben ist John Irvings 15. Roman „Der letzte Sessellift“ in deutscher Übersetzung erschienen.

Von Lisa Schneider

Vielleicht ist es mit John Irving wirklich so ähnlich wie mit Harry Potter. Entweder man kann sehr viel, oder so gut wie gar nichts mit ihm anfangen. Gehört man zur ersten Gruppe, gibt es höchstwahrscheinlich eine allererste Begegnung mit dem Autor und einem seiner Bücher, die früh stattgefunden hat, zumindest aber schon so viele Jahre zurückliegt, dass man sie romantisch-schön verklären könnte. „Weißt noch, damals, im Urlaub“, etc., etc.

Nostalgie ist das wichtigste Werkzeug, nicht in Irvings Romanen, aber im Umgang mit seinen Leser*innen. Das hat nicht nur damit zu tun, dass der US-amerikanische Schriftsteller mittlerweile 81 Jahre alt ist und einfach ein langes Leben hat, auf das zurückzublicken wäre, sondern, dass er eben dieses Leben damit verbracht hat, eine literarische Welt mit Figuren zu füllen, die sich als Familien- und Freund*innenersatz anbieten.

Da wären wir auch schon beim ersten Grund, wieso das denn alles schon ziemlich gut ist, was John Irving so macht: Wer so einen Schinken am Nachtkästchen liegen hat, der braucht keine Dates, Kino-Abende, keine langen Telefonate und schon gar kein TikTok. Dass John Irving damit vor allem die anspricht, die seine Bücher eh schon seit Jahren lesen, mag sein. Dass seine Bücher nur etwas für genau diese Menschen, und nicht auch die jüngere Lesegeneration sind, nicht. John Irving-Bücher liest man, wenn man das Lesen liebt, das mitunter stunden- und tagelange, das Aufmerksamkeit abverlangt und einem dafür die ganze Welt zurückschenkt. Über die leidige Frage, ab wann ein Buch „zu lang“ ist, soll an anderer Stelle diskutiert werden.

Buchcover John Irving "Der letzte Sessellift"

Diogenes

„Der letzte Sessellift“ von John Irving ist sein fünfzehnter und längster Roman, er erscheint in der deutschen Übersetzung von Anna-Nina Kroll und Peter Torberg bei Diogenes.

Auch, weil John Irving gerade seinen allerlängsten Roman veröffentlicht hat. Ätsch. Mit besagten 81 Jahren und nach sieben Jahren Veröffentlichungspause (eigentlich acht, im deutschsprachigen Raum), hat er soeben seinen fünfzehnten Roman herausgebracht. Er heißt „Der letzte Sessellift“, hat knapp 1100 Seiten und lässt schon mal die Handknöchel knacksen.

Vorab: Es ist nicht sein bestes Buch. Es ist nichtsdestotrotz eine Art Heimkommen für die, die sich auskennen mit Irving und seinen Themen, mit dem abwesenden Vater und der immer irgendwie leicht mysteriösen Mutter, mit Missbrauch und Inzest und sexuellen Abenteuern aller Art, mit Transgender- und mit stummen Charakteren, mit seiner Liebe zu Österreich, Tieren in seltsam vermenschlichten Rollen und natürlich - der „Sessellift“ im Titel hat’s verraten - seiner Liebe zum Schifahren.

Die Geschichte beginnt diesmal in Aspen, Vermont, es ist das Jahr 1941, und Rachel „Little Ray“ Brewster ist die Wintermonate über Schilehrerin - weil sie mit ihren knapp 1,50m zu klein und vor allem zu leicht für eine professionelle Schikarriere ist. Ihr Sohn Adam Brewster ist nicht nur der Erzähler des Romans und somit seiner Geschichte, er kommentiert auch alles, was passiert - wenn auch auf eine naive, träge, liebevolle Art und Weise. Er ist, wie Irving selbst in einem Interview betont, der „langsamste“ aller Romanfiguren - und dahingehend schon mal wieder eine typischer Irving-Schöpfung. Auch deshalb, weil er als allerletzter dahinterkommt, dass er in seiner erweiterten Familie der einzige heterosexuelle Mensch ist. Die hämischen Tanten, die kernige, laute Cousine Nora, der Stiefvater, der zur „Schneeschuhläuferin“ wird und ein paar Geister: inmitten dieses verrückten, queeren Haufens wird einmal alles umgedreht und die Norm zur Ausnahme. John Irving hat sein Herz nicht nur schon immer an die Außenseiter*innen verschenkt, sondern das nicht vor allen, aber vor vielen anderen Vertreter*nnen der amerikanischen Erzähltradition getan.

Als 1978 sein vierter und Durchbruchs-Roman „Garp und wie er die Welt sah“ veröffentlicht wird, gibt es rundherum - und schon gar nicht im Mainstream - wenige transsexuelle literarische Figuren; jedenfalls wenige, die im Roman genauso behandelt werden wie alle anderen auch. John Irving liebt seine Figuren. Man merkt es daran, wie liebevoll er mit ihnen umgeht, auch, wenn das nichts damit zu tun hat, was ihnen alles zustößt im Lauf ihres Lebens.

How to Irving

Empfehlungslisten sind selten eine objektive Angelegenheit, natürlich ist es auch bei dieser so. Viele würden hier jetzt „Garp und wie er die Welt sah“ an die Spitze setzen, aber so läuft’s eben nicht immer im Leben!

  1. Gottes Werk und Teufels Beitrag
    Weil: Filmreife Storyline (oscarprämiertes Drehbuch!), große Rührung, viele Tränen. Außerdem: Schönster literarischer Refrain und Abschluss einer Geschichte: „Gute Nacht, ihr Prinzen von Maine, Könige Neuenglands!“ (diese Zeile hat sich John Irving himself nicht umsonst auf den rechten Unterarm tätowieren lassen).
  2. Das Hotel New Hampshire
    Weil: Es treten nicht nur Freud und ein motorradfahrender Bär auf, es spielt auch teilweise in Wien und ist Irvings skurrilste und hinreißendste Familiengeschichte. Außerdem: Autor Benedikt Wells sieht das genauso.
  3. Last Night in Twisted River
    Weil: Wie oben erwähnt, ist eine Irving-Bestenliste nie objektiv, weil er jede*n an einer anderen Stelle in Leben & Herz trifft. Das ist mein Treffer.

Noch mehr Gründe, seine Bücher zu lesen: John Irving setzt sich mit seinen Büchern seit Jahrzehnten für Frauenrechte und die der LGBTQI+ Community ein, ohne dass er selbst jemals eine große Sache daraus gemacht hätte. Selbst bei einer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen und Bruder zweier homosexueller Geschwister hat er, wie er oft betont hat, früh gelernt, sich und seine Familie zu verteidigen (mit Worten, er war zwar Ringer, auch professionell, aber nicht diese Art von Ringer). Zehn Jahre, bevor John Irvings Tochter, die später ihre Transition durchlaufen sollte, auf die Welt kam (1991), kam „Garp und wie er die Welt sah“ auf die Kinoleinwand. In den Hauptrollen Robin Williams und - ungeschlagen - John Lithgow als Roberta Muldoon, damals oscarnominiert.

„Die Probleme, die wir damit haben, Brewsters zu sein, haben alle mit Sex zu tun“, sagt Cousine Nora in „Der letzte Sessellift“ zu Adam. Das gilt nicht nur für die Brewsters, das gilt für mehr oder weniger alle Figuren in allen Irving-Romanen. Das Herausragende daran ist aber nicht nur der Umstand, dass Irving schon in den 80ern Dinge gepredigt hat, die man heute auf jedem zweiten Instagram-Posting (vorausgesetzt, die Bubble stimmt) zu lesen bekommt. Dass das alles sehr viel tiefer geht als das schlichte „Unterstützen“ der Opfer verschiedenster Arten von Gewalt, merkt man, wenn Irving sich selbst erklärt. Er sei sehr schlecht darin, die Zukunft vorauszusehen. Er hätte nie gedacht, dass etwa sein Buch „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ heute aktueller denn je sein wird, wo die Abtreibungsdebatte in den USA nach wie vor geführt wird. Lange bevor diverse gesellschaftliche Debatten losgetreten, bzw. oft bevor sie überhaupt ihren Anfang genommen haben, bevor es „hip“ war, sich als „Ally“ zu bezeichnen und es zu einer bestimmten Wokeness-Idee verkommen ist, sich für Dinge einzusetzen, die eine*n selbst nicht berühren, hat John Irving das durch, mit und für seine Romanfiguren getan. Ein neuer Grund, ihr merkt es schon: John Irving schreibt (auch) deshalb so gut, weil überzeugter Humanist.

Als die „letzten beiden amerikanischen Erfolgs-Autoren der Hippie-Ära“ hat mein Kollege Boris Jordan T. C. Boyle und John Irving kürzlich bezeichnet. Das stimmt natürlich, aber T. C. Boyle ist Punk und John Irving eher weniger, der eine der Iggy Pop, der andere der Bruce Springsteen der zeitgenössischen, amerikanischen Literaturwelt. Sprich: das geht alles mehr oder weniger skandalfrei über die Bühne, im Privaten wie im Schreiben.

Wenn es in Irvings Romanen um Sex geht, dann oft auf eine schräge, naive, und selten erotische, oder gar sinnliche Art und Weise. Und dabei ist es nicht einmal so, dass abseits davon keine schlimmen Dinge in seinen Romanen passieren, denn das tun sie wohl: ständig stirbt jemand, unerwartet. Menschen werden ermordet oder vom Zug überrollt, sie stürzen mit dem Flieger ab oder verlieren eine Hand. Dazwischen aber liegt die Tragikomik des Lebens. Noch ein Grund: Die hat John Irving verstanden. In seinen Romanen geht es im Kern nie um die schulische, sondern immer um die Herzensbildung.

Das ist jetzt halt aber auch der Grund (keiner für ihn, aber ein anderer) dafür, dass er im Buchladen nicht zwischen John Updike und Richard Ford, sondern eher zwischen Stewart O’Nan oder Elizabeth Strout aufzufinden ist. Irving steht dem Gemeinschaftsgefühl und dem besagten, humanistischen Gedanken näher als dem präzisen Intellekt. Anders gesagt: John Irving-Romane haben den Vorteil, dass sie - sofern man die Länge jetzt mal wegdenkt - auch Leser*innen ansprechen (können), die sonst nicht allzu viel mit Literatur am Hut haben. „Snackable“ wäre ein mögliches Wort dafür, „flüssig lesbar“ klingt ein bisschen besser.

Jetzt gab es nach Erscheinen dieses neuen, 15. Romans den Vorwurf, dass nicht Irvings Sprache, aber seine Erzählweise „antiquiert“ wirken würde. Dass Menschen lieber zu jüngeren Autor*innen greifen würden, die sich mit denselben Themen der sexuellen Identität, der körperlichen Selbstbestimmung und der Freiheit des Individuums beschäftigen. Ja, eh. Das hier zu lesende, ungefragte Plädoyer wurzelt ziemlich sicher genau dort. Und dann ist das hier aber auch keine Rezension zu „Der letzte Sessellift“. Das ist ein Artikel zum damals vorläufigen Arbeitstitel „Wie toll ist John Irving“? Die Antwort ist der letzte Grund: Sehr.

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