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Scherengitter vor einer Einkaufsgalerie in Kingston-upon-Hull

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

Die kleinste Violine der Welt

Schluss mit Wohlstand. Im Namen der orthodoxen Inflationsbekämpfung wird in Großbritannien das Kernversprechen des Nachkriegskapitalismus gebrochen. Mit unabsehbaren Folgen.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Neulich bin ich im Supermarkt vor dem Kühlregal gestanden und hab einfach nur die Preise bewundert. 100 Gramm Schinken für jetzt umgerechnet 4 Euro 50, ein Ziegel Cheddar umgerechnet 6 Euro, da hilft nicht einmal mehr die Flucht in imperiale Maßeinheiten.

Beim Lesen dieser Zahlen stieg in mir die Überzeugung, dass ich diese Lebensmittel in meinem Bauch nicht brauchte, jedenfalls nicht um diesen Preis. Da ist gerade was falsch, sagte die Stimme im Kopf, also switch it off and turn it on again. Geh besser wieder nach Hause, und dann komm zurück, wenn die Dinge wieder normal sind.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Und während mein Über-ich dem Innen-ich ein ziemlich herablassendes „Dream on...“ zuflüsterte, merkte ich, dass links und rechts neben mir auch jeweils ein Typ mit Einkaufskorb stand und dasselbe Kühlregal mit derselben Denkblase über dem Kopf anschwieg.

Der Kostümordnung nach hätte ich Mr Left und Mr Right der soliden Middle Class zugeteilt, sie mich vielleicht auch („langes“ Haar = soft privilege, seien wir uns ehrlich). Was wir da taten, also unser Zurückschrecken vor dem Schinken- und Cheddar-Erwerb, war jedenfalls genau das, was die Bank of England von Typen wie uns sehen wollte. Und die Regierung steht, wie es heißt, „moralisch“ dahinter.

Gemäß einer importreifen, schönen englischen Redensart zur Relativierung von Luxusproblemchen konnte ich als Soundtrack dieser Begegnung am Kühlregal die kleinste Violine der Welt für uns drei spielen hören, aber genau das ist, wie ich im Folgenden erklären will, der Punkt.

Wir haben nämlich so wie ihr, nur wie üblich noch ein bisschen ärger, ein beharrliches Inflationsproblem, wie immer man es misst: Ein im Mai um 7,9 Prozent gegenüber dem Vergleichsmonat im Vorjahr gestiegener Verbraucherpreisindex, die höchste Kerninflationsrate seit 1991 bei 6,5 Prozent (ohne Energie, Tabak, Lebensmittel, Alkohol), besonders schlimm aber für Haushalte mit geringem Einkommen: Die Lebensmittelpreise liegen um satte 18,3 Prozent höher als im Vorjahr.

Die gängige Theorie zur Bekämpfung von Inflation geht ja vom Szenario eines überhitzten Marktes aus und verlangt, dass wir mit drastischen Mitteln motiviert bzw. dazu gezwungen werden, unseren Konsum zurückzuschrauben, bis die Leute, die uns was verkaufen wollen, ihre Preise senken oder zumindest nicht weiter erhöhen.

In anderen Worten: Die gängige Theorie klingt erstaunlich ähnlich wie meine oben zitierte innere Stimme vor der Korrektur durch das lebensnähere Über-ich.

Ähnlich meiner inneren Stimme, dem ewigen alten Kind der Kreisky-Ära, das immer noch in Schilling rechnet („80 Schilling für ein Packerl Cheddar-Käse, die spinnen!“), lebt diese Theorie nämlich immer noch in den Siebzigern und Achtzigern des letzten Jahrhunderts.

Damals hatte die westliche Nachkriegswelt gerade zwei solide Jahrzehnte steigender Reallöhne hinter sich, und die damit steigende Kaufkraft sorgte per steigender Nachfrage für steigende Preise, diese wiederum für noch mehr Lohnerhöhungen, sprich die gefürchtete „Lohn-Preis-Spirale“ (obwohl, da war auch noch eine politisch begründete Ölkrise, aber lassen wir das einmal beiseite).

Meanwhile auf dem Planeten Gegenwart haben wir es in Großbritannien – abgesehen von den obersten zehn Prozent – seit 13 Jahren mit sinkenden Reallöhnen zu tun, um die man sich (siehe Inflationsraten oben) immer weniger und weniger kaufen kann.

Und zwar bei beharrlich hohen Energiekosten, die sich direkt und indirekt (in Form erhöhter Produktionskosten) auf Preise niederschlagen. Siehe auch die opportunistische Tendenz der Konzerne, im Windschatten der Inflationserwartung ihre Profite zu erhöhen. Anbei dazu eine Grafik des marxistischer Denke gänzlich unverdächtigen Internationalen Währungsfonds:

Mit erhöhter Nachfrage durch die Konsument*innen haben diese Faktoren jedenfalls nichts zu tun, und wo sollte die auch herkommen? Selbst der eigene Bericht der Bank of England sieht bei der überwiegenden Mehrheit der britischen Bevölkerung keine Anzeichen für ein nennenswertes Ansteigen der Löhne, und ohne jenes ließe sich logischerweise eigentlich nicht von einer Lohn-Preis-Spirale reden.

Dennoch beharrt Andrew Bailey, Chef der Bank of England (eigenes Einkommen umgerechnet rund 670.000 Euro pro Jahr), auf seinem Seventies-Retro-Narrativ, stellt sich mit zerknirschter Miene vor die Kamera und erzählt den Durchschittsbrit*innen, ihre vermeintlich steigenden Einkommen seien eine Hauptursache der Inflation und daher grundsätzlich „unhaltbar“.

Dieser Fiktion folgend hat die Bank of England nun letzte Woche zum dreizehnten Mal in Folge die Leitzinsen erhöht - in anderthalb Jahren verfünfzigfacht von einem Rekordtief von 0,1 Prozent auf 5 Prozent.

In diesem Land der stolzen Reihenhausbesitzer*innen, wurden jene, die dies unbedingt werden wollen, während der Jahre historischer Niedrigzinsen von Markt und Regierung gleichermaßen zum Aufnehmen schwindelerregend hoher Hypotheken ermutigt, die mit einem Mal völlig unleistbar geworden sind.

Für Millionen Brit*innen hat der Move der Bank of England also potenziell ruinöse Konsequenzen. Übrigens auch für jenes Drittel der Bevölkerung, die ihre Behausungen mietet. Denn deren Hypotheken-belastete Besitzer*innen geben entweder ihre gestiegenen Raten mangels Mieterschutz weiter oder werfen die Behausung auf den Markt, bevor er crasht (was er somit noch schneller und unausweichlicher tun wird).

Mir ist übrigens sehr bewusst, dass ich mich mit dieser Kolumne als Nicht-Ökonom weit jenseits meines paygrade aus dem Fenster lehne.

Aber wenn die Bank of England mit ihrer demokratisch nicht legitimierten Exekutivmacht die finanzielle Not von Millionen und ein rapides Ansteigen der Obdachlosigkeit riskiert, dann ist das nicht nur eine ökonomische, sondern eine hochpolitische Entscheidung.

Und wenn sie dreizehnmal dasselbe tut, ohne sich dem erwünschten Ziel auch nur zu nähern, muss man ihre Logik schon auch in Zweifel ziehen dürfen. Da bin ich auch bei weitem nicht der Einzige.

So häufen sich die Stimmen, die meinen, dass in einer rundum privatverschuldeten und von Private Equity-Deals durchsetzten Wirtschaft wie der britischen des 21. Jahrhunderts die Verteuerung des Borgens – entgegen aller Orthodoxie – in Wahrheit die gegenteilige der erwünschten, nämlich eine inflationäre Wirkung habe. Der Ökonom Richard Murphy (sein empfehlenswerter Blog ist hier zu finden) etwa weiß das – zumindest für mich – überzeugend zu begründen, siehe diesen Fernsehauftritt von letzter Woche:

Davon abgesehen aber interessiert mich vor allem der (hier ist das überverwendete Wort einmal berechtigt) radikale Paradigmenwechsel der hier stattfindet:

Während bis vor kurzem noch Wachstum fetischisiert wurde, erzeugt man im Namen der Inflationsbekämpfung ganz bewusst Rezession und echtes oder relatives Elend, und zwar bis tief in Teile der Bevölkerung hinein, die bisher zur auf Kosten anderer verhätschelten Kernklientel der Konservativen gehörten.

Während die kapitalistische Konsumgesellschaft der Nachkriegszeit ihr Freiheitsgefühl aus der (scheinbar) freien Wahl bezog, wofür man sein Hartverdientes ausgibt, lebt die/der captive consumer nur noch fürs Bezahlen der unvermeidlichen Rechnungen.

Die Message heißt: No, you can’t have nice things.

Wie sich mit diesem fundamentalen Bruch des Wohlstandsversprechens Wahlen gewinnen lassen, ist freilich nicht ganz klar.

Margaret Thatcher machte sich 1979 ähnlich unbeliebt, als ihre Regierung gleichzeitig frontal auf die (damals noch starken) Gewerkschaften losging und die Leitzinsen auf einen unerreichten Rekordstand von 17 Prozent erhöhte (Hauspreise waren damals ungleich niedriger im Verhältnis zum Einkommen der Hypotheken-Verschuldeten, deren reale Belastung wog daher ähnlich schwer wie bei den heutigen 5 Prozent).

Die nächsten Wahlen gewann Thatcher dann trotzdem, indem sie 1982 gegen Argentinien in den Krieg zog und einen letzten Kolonialkrieg um die mehrheitlich von Pinguinen bewohnten Falkland-Inseln ausfocht. Irgendwas in der Art müsste Rishi Sunak also noch einfallen.

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