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1989: Viele Menschen auf und vor der Berliner Mauer, eine Person hämmert Stücke aus der Mauer, eine andere springt herunter.

AFP / PATRICK HERTZOG

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Die Freiheit, die wer meint?

„No Limit - Die Neunziger, das Jahrzehnt der Freiheit“ von Jens Balzer beschreibt das vielleicht letzte vorwärtsgewandte Jahrzehnt.

Von Boris Jordan

„No Limit - Das Jahrzehnt der Freiheit“ ist in erster Linie ein Buch über Popkultur. Wie schon in den letzten beiden Bänden nimmt Balzer popkulturelle Phänomene zur historischen Auseinandersetzung und Einordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse, um ein möglichst umfassendes Bild der Gesellschaft zu zeichnen, in einem Jahrzehnt, das von Extremen und Übergängen gleichermaßen geprägt war. Das liest sich dann auch umso spannender, als wenn er nur über Techno, Tattoos oder Grunge reden würde.

Buchcover

Rowohlt

„No Limit“ von Jens Balzer ist im Rowohlt Verlag erschienen.

Das „lange Jahrzehnt

Wie der - sehr empfehlenswerte - Historiker Eric Hobsbawm in seiner „Ages“ Reihe, weist auch Balzer darauf hin, dass die Grenzen der Epochen sich nicht an Datumslinien entlang beschreiben lassen. So wie Hobsbawms „Jahrhunderte“ als verschieden lange Epochen beschrieben werden - das „lange 19.“ dauerte von der französischen Revolution bis zum ersten Weltkrieg, das „kurze 20.“ dann bis zum Ende der Sowjetunion - interpretiert auch Balzer seine „Neunziger“ als „lange“ - vom Mauerfall bis zu 9/11.

Das Versprechen der Freiheit

Thematisch ist das Jahrzehnt so unsymmetrisch wie selten eines zuvor. Es beginnt als Freiheitsschrei der halben Welt und endet mit dem Entsetzen der anderen Hälfte. Es „verspricht“ an seinem Anfang das „Ende der Geschichte“, als das der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama den Untergang des „realen Sozialismus“ bezeichnet hatte: Das Ende aller Konflikte wäre mit 1989 erreicht, da der liberale Kapitalismus gesiegt und sich als stärkstes System erwiesen habe, auf das sich ab jetzt die ganze Welt einigen würde - mit dem Ergebnis, dass in diesem gemeinsamen System sich stetiger Fortschritt, Frieden und Wohlstand für alle praktisch von selbst ergäben.

An seinem Ende blickt das Buch eines anderen Politikwissenschaftlers auf andere Neunziger zurück. Geprägt vom Huntington`schen „Clash of Civilizations“ erlebt die Welt eine machtvolle Wiederkehr von überwunden Geglaubtem: Von bewaffneten ethischen Konflikten, dem Wiedererstarken von Nationalismus und religiösem Fundamentalismus und dem weltweiten Erblühen der ständigen terroristischen Bedrohung eben dieses liberalen, westlichen, kapitalistischen Modells.

Subkulturen und Kommerz

Kulturell sind die Neunziger in Jens Balzers Buch von zwei starken Motiven geprägt. Dem Individualismus und dem Sieg des Kommerz.

Das individuelle Abgrenzen des/ der einzelnen ist eine der augenfälligsten Neuheiten der Neunziger. „Alle wollen nun Außenseiter sein, bis auf ein paar Außenseiter“, schreibt Balzer und zeichnet ein Bild, in dem die Subkulturen der vorigen dreißig Jahre von kollektiven Bewegungen zu individuellen Ausdrucksformen werden. Punk, Hippie, Slacker, Yuppie, Clubber, Crustie, Skinhead, TechnoJünger:in - die Freiheit, alles sein zu wollen, solange es die anderen nicht sind, bestimmt die Popkultur der partikulären Styles und findet Ausdruck in den massenhaften Tattoos als Willen zum Ausdruck der endgültigen Individualität der Körper (die dann als Tribals und Arschgeweihe wieder zur Uniform werden). „Small Parts, isolated and destroyed“, wie es die Hardcore Band NoMeansNo zusammenfasst.

Zugleich Siegt der Kommerz. Sämtliche Tribalismen der letzten 20 Jahre erfahren eine rasante und nie da gewesene Kommerzialisierung. Die „klassischen“ Subkulturen verlassen ihre „temporären Autonomen Zonen“ wie sie der Anarchist und Mystikers Hakim Bey beschrieben hatte, und gehen im Mainstream auf. Was es in den Siebziger- und Achtzigerjahren nur eingeweihten bekannt war, betritt jetzt in den 90er-Jahren die große Bühne, wird kommerziell erfolgreich und zum Massenphänomen. Indie Rock und Hardcore mit Nirvana und Grunge, Indie Pop mit Britpop, Punk mit Green Day und dem Stadionpunk, Techno mit Love Parade und Eurodance, HipHop mit Wu Tang Clan – die Musikindustrie bläst sich nochmal richtig auf, die Kulturindustrie erreicht eine unerhörte Machtfülle.

Politik

Eine gegenkulturelle Hoffnung des Jahrzehnts, die das nächste Jahrtausend bestimmen sollte, das freie, Rhizom -artige und als anarchistisch empfundene Internet, hat eine kurze gegenkulturelle Blüte, die DotCom Ökonomie bereitet am Schluss der Neunziger aber schon die Pfade für die Hegemonie der Tech-Konzerne unserer Zeit. So endet das Freiheitsversprechen des Mauerfalls in der Überwachung durch Meta, Google und Tik- Tok.

Der Glaube an seligmachendem Konsum und der nie enden wollenden Ausbreitung des liberalen Kapitalismus bestimmt das Jahrzehnt politisch. Gegenbewegungen wie Umweltschutz, Wachstumskritik oder Identitätspolitik, die in den Achtzigern begonnen hatten, machtvolle Aspekte des außerparlamentarischen politischen Lebens zu sein, fristen in der Euphorie der Clinton-/ Schröder-/ Blair-Jahre ein Nischendasein, und sollten erst im neuen Jahrtausend, mit 9/11, Occupy Wall Street, der Finanzkrise und Extinction Rebellion wieder in den Fokus rücken.

Wie Jens Balzer die nebensächlichsten Pop-Phänomene und die großen Hauptkonflikte des Jahrzehnts miteinander verknüpft, all das ist sehr hellsichtig, verantwortungsvoll recherchiert und kurzweilig geschrieben. Ein paar kleine Fehler (ja, „Technotronic“ kommen aus Belgien, „Curiosity killed the Cat“ waren keine HipHop Band) fallen nicht ins Gewicht, man kann sich auf das enzyklopädische Wissen und die intelligente historische Einordnung der Autors verlassen und in ein bekanntes unbekanntes Jahrzehnt eintauchen - und auch Leute, die dabei waren werden in dem Buch Neues finden und die, die nicht dabei waren, sowieso.

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