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Buchcover von Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe von Doris Knecht

Radio FM4/Hanser Berlin

Doris Knecht: Eine vollständige Liste aller Dinge...

Der Titel ist kompliziert: „Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe“. Der Inhalt äußerst zugänglich: Das Ausziehen aus dem Elternhaus, die erste Wohnung, Ausgehen, Beziehungen, Kinder bekommen, das Finden einer neuen Wohnung, Loslassen, Ankommen, Erinnern und Vergessen. Und das Beste: witzig ist es auch noch – das neue Buch von Doris Knecht.

Von Zita Bereuter

Von Doris Knecht glaubt man vieles zu wissen: sie stammt aus Vorarlberg, lebt in Wien und im Waldviertel, ist Alleinerzieherin von einem Zwillingspaar, hört gern Bob Dylan und hat einen Hund. Und sie liebt Listen. Auch wenn die oft unvollständig sind - Listen helfen ihr einen Überblick zu verschaffen, nichts zu vergessen, die Kontrolle zu behalten. In ihrem neuen Roman mit dem paradoxen Titel: „Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe“ trifft all dies auch auf die Ich-Erzählerin zu.

Wie in ihren wöchentlichen Falterkolumnen spielt Doris Knecht mit Autofiktion. Sie nimmt ihre biografischen Eckdaten als Gerüst und erfindet darin munter Figuren, Situationen, Konstellationen. Stand in ihren sechs vorherigen Romanen meist ein großes Problem im Mittelpunkt, sind es jetzt viele kleinere Probleme, erklärt sie im Interview: „Die zum Teil auch tragisch sind, aber wo man auch viel lachen kann, weil es auch sehr komisch ist.“

„Der Hund hat schon wieder ins Auto gekotzt.“

Mit diesem kleinen Problem beginnt der Roman. Leicht zu lösen im Vergleich zu dem, was daheim auf sie wartet - in ihrer Wohnung. Die ist groß und schön. Und teuer. Und weil die Zwillinge ausziehen wollen oder sollen kann sich die Alleinerzieherin die prächtige Dachgeschosswohnung nicht mehr länger leisten. Ein Wendepunkt in ihrem Leben und dem der Kinder steht an.

Autorin Doris Knecht

Zita Bereuter / radiofm4

Während die Ich-Erzählerin eine Bestandsaufnahme ihres Lebens macht, erinnert sie sich in kurzen Kapiteln an ihre Kindheit und Jugend, an ihren Auszug aus dem Elternhaus. An ihre erste Wohnung. Das WG-Leben. An Freundschaften. Beziehungen und deren Scheitern. An die Anforderungen als Alleinerzieherin. An das Sich-Fremd-Fühlen und Ankommen. An Sammeln und Loslassen. „Und das ist etwas, was ich nicht gut kann und meine Ich-Erzählerin eben auch nicht: nämlich loslassen können. Und in dem Moment, wo man dann wirklich loslassen muss und sich umdrehen muss und weggehen, das ist natürlich ein Moment, den man sich merkt", sagt Doris Knecht.

Tatsächlich hat Doris Knecht während des Schreibens ihre große Wohnung aufgelassen, in der ihre beiden Kinder aufgewachsen sind und in der vieles aus deren Kindheit gesammelt war. „Wenn man dann auszieht aus dieser Wohnung, geht man nochmal durch dieses ganze Großwerden der Kinder durch. Und das ist natürlich ein sehr sentimentaler, manchmal auch bewegender Prozess. Und da zu fragen: Wer braucht was von dem? Wer nimmt es mit oder geben wir es her? Und dann diese Wohnung hergeben zu können, zu sagen: Die haben wir jetzt bewohnt, die haben wir vollgemacht. In der haben wir gelebt und die hat viel Gutes für uns getan. Und jetzt können wir sagen: Jetzt soll jemand anderer drin wohnen. Das ist auch ein Prozess. Und das war dann am Schluss auch sehr schön und sehr befreiend.“

Zu ihrem letzten Roman „Die Nachricht“ hat Doris Knecht im FM4 Gästezimmer einige Songs von diesen CDs gespielt.

Doris Knecht will vor allem eines: Geschichten erzählen. Als würde man mit der Hauptfigur an einem Tisch sitzen und durch ein Album blättern und nebenbei Blues hören. So ähnlich war es auch beim Schreiben. „Weil ich hier tatsächlich ausgemistet habe, als ich das Buch geschrieben habe und auch Fotos angeschaut habe, die ich dabei gefunden habe. Und auch meine CDs ausgemistet habe und da auf viel Musik gestoßen bin, die ich seit Jahren nicht mehr gehört hatte und einmal noch gehört habe, bevor ich die CDs weggegeben habe. Und das war schon ein großer, manchmal schmerzhafter Erinnerungsprozess.“

Ein Prozess, der durch das darüber Schreiben sehr viel einfacher wurde. Denn so konnte sie auch Erinnerungen konservieren: „Ich halt mich mehr an Texten fest als an Bildern, obwohl ich immer sehr viele Fotos mache, egal wo ich bin. Es sind trotzdem Texte. Das, was meine Erinnerung mehr triggert als Bilder. Und insofern war das vielleicht tatsächlich wie ein Fotoalbum.“

I love Solitude

Für die Ich-Erzählerin bricht keine Welt zusammen, nachdem sie die Familienwohnung aufgelöst, die Kinder aus dem Haus sind. Sie sieht das vielmehr als neue Möglichkeit einer gewissen Freiheit und genießt das Gefühl des positiven Alleinseins – „I love Solitude“. „Und das trifft diesen Zustand sehr gut, dass Leute wirklich einfach glücklich sind mit ihrem Alleinsein und dass es einfach auch einen Schlag Menschen gibt - und die Erzählerin im Buch ist so ein Mensch - die nur auftanken kann, wenn sie für sich ist, während andere Menschen nur in Gesellschaft auftanken können“, sagt Doris Knecht.

Wie Virginia Woolf möchte die Ich-Erzählerin „Ein Zimmer für sich allein.“ „Das habe ich eh schon in meinem Falter Kolumnen immer mal wieder erzählt, dass ich nie einen Raum für mich zum Schreiben hatte, seit ich Kinder habe. Und dass ich immer mit einem riesigen Kopfhörer auf den Ohren an einem Esstisch saß und meine Bücher und meine Kolumnen geschrieben habe. Und als ich zum Ersten Mal einen Raum für mich alleine hatte, war das so eine Offenbarung. Ungefähr nach drei Wochen ist mir aufgefallen, dass ich nicht einen Satz mehr schreibe oder besser schreibe, als ich das vorher mit den Kopfhörern gemacht habe. Aber trotzdem ist es gut, wenn man einen Raum für sich hat, in dem man Ruhe hat und auch mal den Kopfhörer absetzen und sich entspannen kann, ohne dass jemand gelaufen kommt und das als Aufforderung nimmt, sich zu kümmern.“

Allein sein ist eines. Alleinerzieherin sein etwas anderes. Wie hart der Alltag als Alleinerzieherin ist, konnte sich weder die Ich-Erzählerin noch Doris Knecht vorstellen. „Wie allein man sich fühlen kann, wenn man nicht einen zweiten hat, mit dem man Sachen auch nur besprechen kann. Also dass man quasi auch alle Entscheidungen alleine trifft. Dass man für alles, was mit den Kindern und mit dem Haushalt und mit dem Budget zu tun hat, wirklich allein zuständig ist.“ Von Arztterminen über diverse Kurse oder Veranstaltungen, zu denen man die Kinder bringen muss. „Es ist wirklich eine sehr, sehr große Aufgabe, die man möglicherweise unterschätzt, auch bevor man sich auf das einlässt. Trotzdem kann es auch sehr erfüllend und befriedigend sein, weil es natürlich gut ist, auch wenn man ganz allein Entscheidungen treffen kann und die nicht mit jemanden absprechen muss vorher.“

Buchcover von Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe von Doris Knecht

Hanser Berlin

„Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe“ von Doris Knecht ist bei Hanser Berlin erschienen

Doris Knecht weiß natürlich, dass die Figur im Buch sehr privilegiert ist, hat sie doch nur die wirtschaftlichen Sorgen einer Freiberuflerin. „Manchmal fragen sich die Leute, warum sich die Alleinerzieherinnen nicht mehr wehren gegen die Situation, in der sie stecken. Die richtigen Alleinerziehenden, die wirklich manchmal nicht wissen, wie sie von einem Tag in den nächsten kommen. Genau deshalb natürlich: Weil sie überhaupt keine Zeit haben, sich zu organisieren. Weil sie so beschäftigt sind damit, überhaupt das Leben gebacken zu kriegen“, wird Doris Knecht im Interview lauter. Überhaupt wird grundsätzlich zu wenig über „die ganzen Komplexe wie Schwangerschaft, Kinderkriegen, Kinderhaben“ gesprochen. „Das sind wirklich Themen, über die sich auch Männer viel mehr informieren sollten, indem sie auch Bücher von Frauen lesen und Frauengeschichten lesen.“

Nachdem Annie Ernaux den Literaturnobelpreis bekommen hat, hätte Doris Knecht von einem Mann gelesen, der meinte, dass es jetzt aber schon auch wieder mal reichen würde mit Frauengeschichten, erzählt sie im Interview. „Und ich finde, es reicht halt noch lange nicht. Die Frauen haben jetzt im Vergleich zu den Männern ungefähr zwei Minuten über sich selber gesprochen. Und seit Jahrhunderten leben wir in den Geschichten von Männern, sowohl in der Kunst als auch in der Literatur. Lange auch in Film und in der Musik, in den Biografien, in den Weltanschauungen, in den Problemen von Männern. Und ich finde, die Frauen haben noch so viel zu zeigen und so viel zu erzählen. Und es muss einfach auch normal werden, dass Frauen über Schwangerschaft reden. Über, wie das ist, wenn man plötzlich ein leerer Körper ist. Wie das ist, wenn man ein Kind kriegt. Und wie es auch ist, wenn man den Kopf verliert in dieser ganzen Sache. Und ich verstehe auch nicht, dass Männer sich nicht mehr dafür interessieren. Es muss doch irrsinnig spannend für einen Mann sein, Geschichten von Menschen zu lesen, die in der Lage sind, ein Kind zu gebären und in ihrem Bauch wachsen zu lassen. Also insofern, ich glaube, da haben wir noch einige Geschichten zu erzählen.“

Eine zugängliche, unterhaltsame und gelungene ist „Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe“.

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