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Foto von Sinéad O'Connor

APA/AFP/Fred TANNEAU

ROBERT ROTIFER

„Sie wussten nicht, dass ich eine Saat war“

Zum Tod der irischen Singer-Songwriterin Sinéad O’Connor.

Von Robert Rotifer

Nein, Journalismus ist das nicht. Ich sitze gerade im Zug von London nach Glasgow, vor dem Fenster ziehen die Midlands vorbei, und ich habe wenig Anhaltspunkte dafür, einen seriösen Nachruf auf die gestern verstorbene Sinéad O’Connor zu schreiben.

Habe ihre vor zwei Jahren erschienenen, semi-lyrischen Memoiren „Rememberings“ nicht gelesen, in denen sie unter anderem über die Misshandlungen durch ihre Mutter und die Nonnen in der Besserungsanstalt in Dublin schrieb, in die man sie als 14-jährige steckte.

Habe die jüngste Doku Nothing Compares von Kathryn Ferguson nicht gesehen und auch keinen Zugang zu jenem Interview, das ich vor wer weiß wie vielen Jahren, Jahrzehnten mit ihr geführt hab.

Ein langer Nachmittag in einer stickigen Hotelsuite im St. Katharine’s Dock nahe der Tower Bridge. Stickig, weil O’Connor alias Shuhada’ Sadaqat pausenlos kiffte während dieses Interviews, das keines war, sondern ein mäandernder, manchmal lauter werdender Monolog mit Anklagen gegen das Unrecht der Welt, die katholische Kirche, die britische Kriegstreiberei (es muss also zu Zeiten des Irak-Kriegs gewesen sein, oder war’s die Invasion in Afghanistan?) untermischt mit Verschwörungstheorien, manche glaubhafter, andere weniger, aber auch jeder Menge religiöser Ideen und Überzeugungen. Rastafarianism, Islam.

Und angesichts dessen, wie ihr Leben verlaufen war, hatte sie auch das fucking Recht, zu kiffen und zu spintisieren, so viel sie fucking wollte. Fuck. Im heutigen Guardian findet sich ein sehr schöner Artikel von Simon Hattenstone, in dem er die Erfahrung seiner Interviews mit ihr beschreibt. Er sagt darin, sie habe das Wort „fuck“ weniger als Fluch denn als ein Satzzeichen verwendet. Das stimmt, sagt aber auch einiges über den Zorn, der in dieser Frau steckte, denn jedes dieser „fucks“ kam trotzdem von Herzen.

S/W-Foto von Sinéad O'Connor

APA/AFP/Mandel NGAN

Und so tief all die konkreten Details jenes Nachmittags in den Nebeln der Zeit und den Nebeln ihrer Joints verschwunden sind, auch die Erinnerung an den Gig an jenem Abend in einer aufgelassenen Kirche in Hackney mit hohem Deckengewölbe, ein Publikum von Hunderten an ihren Lippen hängenden Menschen außerhalb der üblichen Gig-going-Blase, Sinéad in der Mitte der Bühne wie die Priesterin, die sie (auch) war, als Mother Bernadette Mary... Es gibt doch trotzdem Dinge, die ich mir anmaßen will, über sie zu sagen.

Weil nämlich die Nachrufe, die ich bisher im Radio (BBC) gehört habe wie üblich aus nichts als Löchern bestehen, O’Connor eine Singer-Songwriterin nennen, aber bezeichnenderweise trotzdem nur „Nothing Compares 2 U“, ihr Cover eines Prince-Songs erwähnen (ich darf wieder auf den Guardian und seine gute, kommentierte Liste ihrer zehn besten Songs verweisen).

Einer Interpretation, an der es übrigens auch nichts zu schmälern gibt, bloß wird sie meiner vielleicht unerheblichen Meinung nach immer genau falsch beschrieben, nämlich als ein Dokument ungebremster Emotionalität, während sie in Wahrheit ein Dokument der sehr willensstark und zielsicher fokussierten Emotionalität ist, der unglaublichen Selbstkontrolle, mit der ihre Stimme getreu der Dramaturgie des Texts an Intensität zu- und abnimmt.

Diese Stimme, deren bloßes Volumen – Jah Wobble hat das zumindest so erzählt – die Membrane teurer Studiomikros zerfetzen konnte. Die perfekte, immer mit Attributen wie „engelsgleich“ als vermeintlicher Kontrast zu ihrer toughen Stoppelglatze beschriebene Intonation, mit der sie präzise auf jenen Moment am Ende des Refrains zusteuert, wo die bluesige flatness der beiden Silben „to you“ die ganze wohltemperierte Harmonie des Arrangements sabotiert, wie das in einem derartigen Mainstream-Hit normalerweise nicht erlaubt wäre (probiert einmal, das auf einem Keyboard/Klavier nachzuspielen. Geht nicht.).

Genauso klar und kontrolliert klang das übrigens auch noch viele Jahre später in jener Kirche in Hackney, obwohl ihre Sprechstimme vom vielen Kiffen rau und tief geworden war. Sobald sie sang, war davon nichts zu merken.

Und ja, es stimmt, sie weint im Video, das wir alle kennen. Aber mir scheint, sie weint ebenso präzise und kontrolliert. Die eine Träne, die an genau der richtigen Stelle mit der genau richtigen Geschwindigkeit ihre Wange hinunterrollt (ich brauch das nicht anzusehen, es ist tief ins Gedächtnis eingebrannt). Kontrolliert wie eine Frau, die sich später zwar jahrelang intensiv psychiatrisch behandeln ließ, aber dabei großen Wert darauf legte, nie „normal“ werden zu wollen, denn das, soviel wusste sie, wäre das Ende ihres Selbst gewesen (da ist was dran, übrigens, falls sich jemand hier an Aktuelles erinnert fühlen sollte).

Und noch was Prinzipielles: Einer der für Menschen meines fortschreitenden Alters frustrierenden Nebenaspekte des großen Erwachens der letzten paar Jahre (#MeToo ist ein wichtiger, großer Teil davon) ist die ahistorische Arroganz, mit der hin und wieder so getan wird, als habe es in der dunklen Vergangenheit nichts als einen gänzlich unhinterfragten Konsens von Sexismus/Patriarchat/Rassismus/Homophobie gegeben.

Diese vielleicht gutgemeinte, als Betonung des revolutionären Moments der Gegenwart intendierte Behauptung, löscht und negiert die mutigen Taten einer Frau wie Sinéad O’Connor.

Die die weiblichen Künstlerinnen verordneten Schönheitsideale des Musikbusiness radikal verweigerte und allein schon dafür damals schlicht für verrückt erklärt wurde.

Die offen über die Traumata ihrer Kindheit und über ihre angeschlagene psychische Gesundheit sprach, als das für in der Öffentlichkeit stehende Menschen noch ein Tabu war.

Die 1992 als Protest gegen Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche und dessen institutionelle Vertuschung live im US-Fernsehen a capella eine abgewandelte Version von Bob Marleys „War“ vortrug und dabei ein Bild von Papst Johannes Paul II. zerriss.

Die im selben Jahr beim 30th Anniversary Tribute für Bob Dylan im Madison Square Garden von über diese Aktion immer noch empörten Teilen des Publikums (ausgerechnet Bob-Dylan-Fans!) ausgebuht und niedergepfiffen wurde und als Antwort darauf erst recht ihre Stimme erhob: „Until there’s no longer first class or second class citizens of any nation, until the colour of a man’s skin is of no more significance than the colour of his eyes, I’ve got to say ‚War!’“

Ich würde empfehlen, zum Gedenken an Sinéad O’Connor den Mitschnitt dieses erstaunlichen Moments in Ruhe und voller Länge anzusehen, den unglaublichen Mut und die Kraft ihrer Performance (Respekt übrigens auch an Kris Kristofferson). Und dann – so wie ich gerade – unweigerlich zu weinen. Unkontrolliert.

Sinéad O’Connor verstarb im Alter von 56 Jahren. Vor anderthalb Jahren hatte sich Shane, das zweitjüngste ihrer vier Kinder, das Leben genommen. Sie selbst hatte bereits mehrere Suizidversuche hinter sich. Ihre vor über dreißig Jahren furchtlos ausgesprochenen, damals so verbissen verleugneten Anklagen des Kindesmissbrauchs an die katholische Kirche haben sich seither längst als berechtigt erwiesen. Sie hatte ihre Stimme nicht umsonst erhoben.

Im Trailer zu erwähnter Doku hört man die belesene O’Connor den griechischen Dichter Dinos Christianopoulos zitieren: „Sie versuchten mich zu begraben. Sie wussten nicht, dass ich eine Saat war.“

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