FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Buch "Zweistromland" vor weißer Wand

Jenny Blochberger

„Zweistromland“ ist ein Familienroman voller Geheimnisse

Eine junge Frau spürt den Geheimnissen ihrer Kindheit nach. Über Norddeutschland, Istanbul und Südostanatolien spannt sich die Familiengeschichte, die Dilan nach und nach aufdeckt. Autorin Beliban zu Stolberg, die selbst kurdische und deutsche Wurzeln hat, ist ein intensiver, dichter Debütroman gelungen.

Von Jenny Blochberger

Die ältere Frau, die Dilan beim Begräbnis ihrer Mutter anspricht, weiß zuviel über sie – dafür, dass Dilan sie nicht kennt. Erinnerungsfetzen kommen hoch, an einen Unfall in Dilans Kindheit, an ihren Bruder, der immer nur im Sommer zu Besuch kam und dann den ganzen Tag in seinem Zimmer verbrachte. Scharfäugig erkennt die Frau – es stellt sich heraus, dass es ihre Tante ist - auch, dass Dilan schwanger ist.

Diese Häufung emotionaler Ausnahmezustände setzt etwas in Dilan in Gang. Je mehr sie das Kind sich in ihrem Bauch bewegen spürt, desto unruhiger wird sie selbst, desto mehr drängen sich Fragen in ihr Bewusstsein. Welche Geheimnisse haben ihre Eltern immer vor ihr versteckt? Was war eigentlich mit ihrem Bruder los? Und was ist damals passiert, in dem Sommer, als sie fünfzehn war?

Zwischen Welten

2016 ist Dilan eine junge Juristin, die mit ihrem schwedischen Partner in Istanbul lebt. Ihre Eltern, alevitische Kurden, waren einst nach Deutschland emigriert und sind dort geblieben. Dilans Erinnerungen führen sie zurück in den Sommer 1999 in Norddeutschland, als einschneidende Ereignisse in ihrer Familie alles veränderten – und das, was sie in der Gegenwart nach und nach über ihre Eltern herausfindet, führt sie nach Diyarbakir in Südostanatolien. Sie verlässt ihren Arbeitsplatz und setzt sich in einen Bus dorthin, ohne ihrem Mann Bescheid zu sagen. Denn die große Unsicherheit, die sich in ihr ausbreitet, erstreckt sich auch auf ihn: will er überhaupt mit ihr zusammenbleiben oder wird sie mit dem Kind plötzlich alleine dastehen?

Cover von "Zweistromland" von Beliban zu Stolberg

kanon Verlag

Beliban zu Stolberg, 1993 in Hamburg geboren, hat eine deutsche Mutter und einen kurdischen Vater. Sie arbeitet als Drehbuchautorin und lebt in Berlin. „Zweistromland“ (kanon Verlag, 208 Seiten) ist ihr Debütroman.

Traumata, Geheimnisse, Schweigen: das sind Zutaten, von denen so ziemlich jeder Familienroman lebt. In „Zweistromland“ werden Geheimnisse nicht nur bewahrt, sondern das Schweigen sogar als Tugend betont. Dilan ist ein aufgewecktes Kind, eines, das neugierig ist, herumschnüffelt und Fragen stellt. Als sie einmal zu weit geht, führt ihr Vater sie zum Kaffee aus, in ein Restaurant, in dem einst ihre Mutter als Dienstmädchen gearbeitet hat, und erklärt ihr seine Philosophie:

„Du machst das, was du machen musst, um durchzukommen. Merk dir das. Aber wenn du mit unwichtigen Dingen beschäftigt bist, mit der Vergangenheit, verpasst du den Moment, und plötzlich schlägt dich jemand, und du hast es nicht kommen sehen. Dann hast du verloren. Und wir sind keine Verlierer. Merk dir das. Es gibt Dinge, die sich lohnen, angesehen zu werden. Und es gibt Dinge, da schaust du besser weg.“

Der Schatten des Bruders

Zu den Dingen, bei denen alle wegschauen, gehört auch Dilans Bruder. Jedes Mal, wenn er im Sommer nachhause kommt, verlässt Dilan das Haus in der Früh und kommt erst abends zurück, um ihm ja nicht zu begegnen. Der Schatten des Bruders, mit dem irgendetwas nicht stimmt, fällt im Sommer über das mit Geheimnissen gefüllte Haus.

Eine beklemmende Stimmung zieht sich durch den Roman, gebrochen von den Momenten, in denen Dilan mit ihren Freundinnen gemeinsam einfach Kind sein kann, wenn sie mit ihren Fahrrädern die Hügel zum Meer hinunterrasen. Wenn man gemeinsam mit Dilan nach und nach die Geschichte ihrer Eltern entdeckt, wird klarer, warum manche Dinge in der Vergangenheit vergraben werden mussten.

mehr Buch:

Aktuell: