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Birmingham City Council

Birmingham City Council - CC-BY-SA-2.0

ROBERT ROTIFER

Birmingham - Wenn eine Großstadt einfach pleite geht

Die Gemeindeverwaltung des heimlichen Mittelpunkts von England ist de facto bankrott. Die Stadtregierung wird von Konkursverwalter:innen ersetzt. Ist das Beispiel Birmingham ein Blick in die Zukunft?

Von Robert Rotifer

Die Vergleiche mit Österreich hinken ja immer, trotz der ähnlichen Wasserkopf-Situation der alles dominierenden Metropole, aber wenn mich einer mit gezogener Waffe nach einem Äquivalent für Birmingham fragte, würde ich vermutlich „L..L...Linz“ sagen.

Weil Industriestadt, weil nicht allzu weit von London entfernt. Weil ein gewisser Ruf, dass dort vielleicht ein bisschen zu viel betoniert wurde in der Zeit, als man das besonders gern zu machen pflegte. Was Birmingham jedenfalls nicht hat, ist das Selbstbewusstsein oder das Charisma von Manchester, Liverpool, Sheffield, Bristol, englische Städte mit schon ziemlich klingenden Namen. Es hat auch einen Dialekt, außerhalb Birminghams meist verschämt reduziert auf einen Akzent, über den der Rest des Landes sich lustig machen zu dürfen glaubt.

Ich war schon lang nicht im Zentrum von Birmingham, das letzte Mal nur in einem seiner Außenbezirke, denn Birmingham ist die Sorte Stadt, wo man gezielt eine Gegend besucht und das - von einem Einkaufszentrum dominierte - Zentrum auslässt. Die Sorte Stadt, auf die man auf dem Weg anderswohin von der Autobahnbrücke herunterblickt ohne abzufahren. Aber man sollte es auch auf keinen Fall unterschätzen.

Englands heimlicher Schwer- und Mittelpunkt

Birmingham war immerhin einmal das Zentrum der britischen Autoindustrie, ein bescheidener Rest davon verbleibt. Tolkien soll in seinen Fabrikschornsteinen Mordor und in seinen Vororten Middle Earth gesehen haben (ich hab den Herrn der Ringe nie gelesen, man kann mir diesbezüglich alles erzählen). Es hatte eine große Bedeutung in der Etablierung des Heavy Metal (Black Sabbath) und dessen Weiterentwicklung (Napalm Death), des Eighties-Pop (Duran Duran), des Indie-Folk (The Lilac Time), es hatte die Spencer Davis Group, The Move, ELO, The Beat, Fine Young Cannibals und Broadcast, Techno und Bhangra, und damit wär ich noch lange nicht fertig, aber kaum jemand spricht je von einem „Birmingham Sound“.

An Birmingham-Romanen der letzten paar Jahre fallen mir aus dem Stand zum Beispiel Jonathan Coe’s Brexit-Traumaverarbeitung „Middle England“ und Pete Paphides’ migrantische, Popkultur-fixierte Coming-of-Age-Memoiren „Broken Greek“ ein. In den Büchern beider Autoren kommt die 34 Kilometer bzw. drei Stunden lange Fahrt mit der Bus-Route 11 um den Außenring von Birmingham vor, in anderen Worten: Diese Stadt hat Umfang, sie spielt eine enorm wichtige Rolle als Englands urban/suburbaner heimlicher Schwer- und Mittelpunkt.

Folglich bedeutet es schon was, wenn die Gemeinde von Birmingham, wie neulich geschehen de facto ihre Pleite anmeldet.

Die Stadtverwaltung kann derzeit fällige Ausstände von rund 100 Millionen Euro nicht bezahlen, bis nächstes Jahr wird dieser Betrag Prognosen zufolge fast doppelt so hoch sein.

Angesichts dieser ausweglosen Lage hat die Gemeindeverwaltung offiziell eine sogenannte „Section 114 Notice“ eingereicht, sowas wie eine Bankrotterklärung für Lokalverwaltungen.
Unter den Bedingungen des darauf folgenden Quasi-Konkursverfahrens darf die Stadt nur mehr gesetzlich vorgeschriebene Ausgaben tätigen, also nur die nötigsten sozialen Dienste bezahlen, zu denen die Gemeinde rechtlich verpflichtet ist.

Der hohe Preis von Jahrzehnten der Geschlechterdiskriminierung

Die Gemeinde Birmingham selbst gibt an, dass ihre größten budgetären Probleme von Ausgleichszahlungen zur Wiedergutmachung von Jahrzehnten der Geschlechterdiskriminierung verursacht wurden. Über eine Milliarde Pfund, also etwa 1,2 Milliarden Euro, hat die Stadt bereits an Frauen ausgezahlt, die jahrzehntelang gegenüber ihren männlichen Kollegen unterbezahlt wurden.

Im Jahr 2010 brachten 4000 weibliche Angestellte, die in 49 verschiedenen Berufen, von Reinigungspersonal bis zu Pflegebediensteten arbeiteten, eine erfolgreiche Gemeinschaftsklage ein, deren Wert damals auf 200 Millionen Pfund eingeschätzt wurde. Wie sich herausstellte, hatten die Müllmänner der Stadt Bonuszahlungen in der Höhe des bis zu Vierfachen ihres Grundgehalts erhalten, während in von Frauen besetzten Berufen keine dieser Zulagen ausgezahlt worden waren. Nach dem Urteil des Employment Tribunal hieß es, dass noch rund 20.000 weitere Angestellte und Arbeiterinnen im Dienst der Stadt Birmingham Anrecht auf Ausgleichszahlungen hätten.

Da die Stadt es aber bis heute nicht auf die Reihe gebracht hat, Gehälter auf egalitäre Weise neu einzustufen (bzw. auch das Geld dafür nicht finden konnte oder wollte), stieg die Summe der ausstehenden Ausgleichszahlungen seither mit jedem Jahr weiter an. Derzeit liegen die geschätzten Ausstände allein für diesen Budgetposten zwischen 750 und 870 Millionen Euro. Dazu werden laut Council noch 120 Millionen Euro benötigt, um ein fehlerhaftes EDV-System zu flicken.

Der dritte große Grund für die Geldprobleme der Stadt ist wiederum die Inflation, die die eh schon knapp vorhandenen öffentlichen Gelder dahinschmelzen lässt. Dieses Problem teilt Birmingham allerdings auch mit mindestens 26 anderen englischen Gemeinden, egal, ob sie nun von Labour oder den Konservativen regiert werden, darunter Orte im Londoner Pendlergürtel wie Slough, Woking, Croydon und Thurrock. In allen davon finden sich Blasen schwerer Armut, und das mitten im vorgeblich reichen englischen Südosten – Zeugnis eskalierender sozialer Ungleichheit spätestens seit Beginn der sogenannten „Austerität“, 13 Jahre Sparpolitik als Preis des Bankencrash 2008.

Denn die vierte, und vielleicht größte Ursache dieser in Britanniens Gemeinden grassierenden Malaise sind schließlich die radikalen Kürzungen, mit denen alle öffentlichen Institutionen seit 2010 leben mussten. Allein Birmingham hat in diesem Zeitraum eine gute Milliarde Pfund an öffentlichen Geldern verloren, also ungefähr so viel, wie der Stadt jetzt fehlt.

Was es überhaupt noch zu verkaufen gibt

Nach der Pleiteerklärung der Stadt wird nun erst einmal die Regierung in Westminster die Geschäfte des Council übernehmen und Bevollmächtigte einsetzen, die die Gemeindesteuern erhöhen und öffentliches Kapital veräußern werden, um Geld einzutreiben.
Es beginnt die fieberhafte Suche nach Dingen, die selbst in über vier Jahrzehnten britischer Privatisierungswut noch nicht privatisiert wurden.

Andy Street, der konservative Mayor (quasi-Bürgermeister, eigentlich so eine Art Mini-Landeshauptmann mit weniger Kompetenzen) der Region West Midlands rät der Labour-Stadtverwaltung, Landbesitz abzustoßen, der Milliarden wert sei (ohne zu sagen, was heute auf diesem Land steht oder – etwa an Sozialwohnungen – gebaut hätte werden sollen).

Von den 59.000 bestehenden Sozialwohnungen, die die Gemeinde Birmingham besitzt und verkaufen könnte (mit allen katastrophalen Folgen, die das für deren Bewohner:innen nach sich zöge) stellt laut einem Report der Aufsichtsbehörde jedenfalls ein gutes Drittel ein akutes Sicherheits- und Gesundheitsrisiko dar, teils wegen Schimmel und Feuchtigkeit, teils wegen Asbest-Bestand oder strukturellen Mängeln. Wer sowas kauft, müsste in Renovierungen investieren, für die die Gemeinde schon lange nicht mehr das nötige Geld hat.

Die Gemeinde hält außerdem noch einen Anteil (ein knappes Fünftel) am örtlichen Flughafen, der seit Covid allerdings ebenfalls Verluste schreibt.

Library of Birmingham

Birmingham City Council - CC-BY-SA-2.0

Birminghams spektakuläre Bibliothek, angeblich der größte öffentliche kulturelle Raum in Europa.

Ins die Welt mit Pfundscheinen statt Pupillen sehende Auge gefasst wird auch der Verkauf der erst vor zehn Jahren feierlich eröffneten Library of Birmingham, immerhin der größten öffentlichen Bibliothek im Land. Und des fast 140 Jahre alten Birmingham Museum & Art Gallery, das die weltweit größte öffentlich zugängliche Präraffaeliten-Sammlung beherbergt.

Abgesehen von der Vision, dass die Pleite-Kommission den Kunstmarkt mit spätromantischen Schinken überschwemmt, stellt sich dabei die Frage, welche:r private Käufer:in sich für das Museum selbst bzw. die Bibliothek finden könnte, und was zum Himmel jene damit anfangen sollten, um einen solchen Kauf auch geschäftlich zu rechtfertigen. Die magische Antwort darauf ist, dass Birmingham nach dem Vorbild Glasgows diese Institutionen von den neuen Besitzer:innen zurückmietet und so neben der einmaligen Einnahme des Verkaufs künftige regelmäßige Ausgaben für immer schafft. Klingt doch ideal.

Ein finanzielles Problem wird zu einem demokratiepolitischen Desaster

Zu den anderen Restposten des öffentlichen Eigentums, die man loswerden könnte, zählen die als Inspiration für J.R.R. Tolkien zitierte Sarehole Mill und der vor mehr als 400 Jahren gebaute Landsitz Aston Hall, der bereits seit 1864 im Gemeindebesitz steht. Damals war dies das erste der großen aristokratischen Country Houses, das in den Besitz der Allgemeinheit überging. Hier wird also nicht nur die Nachkriegsperiode zurückgespult, sondern anderthalb Jahrhunderte des Prinzips Gemeinnützigkeit.

Man könnte auch sagen: Mit der kommenden Verschleuderung öffentlichen Eigentums unter Aufsicht einer im Gegensatz zur Gemeindeverwaltung von niemand gewähltem, in London eingesetzten Kommission, wird ein finanzielles zu einem demokratiepolitischen Problem gemacht. Die völlige Privatisierung des öffentlichen Raums ist letztlich eine zutiefst politische Entscheidung auf dem Weg in eine Welt, wo es zunehmend weniger Rolle spielt, wer eigentlich in einer Stadt-Regierung sitzt, weil dieser Stadt-Regierung bald schlicht nichts mehr von Belang gehört.

Die Illusion, die den Brit:innen in den letzten knapp viereinhalb Dekaden verkauft wurde, ist, dass all das keine Rolle spielt, solange jemand andere:r dieselben Dienstleistungen angeblich effizienter erledigt. Aber es waren immer öffentliche Gelder, mit denen die Profite des Outsourcing finanziert wurden. Öffentliche Gelder, mit denen veräußertes öffentliches Eigentum zurückgemietet wurde.

Ein an allen Enden bröckelndes Großbritannien, dessen Gemeinden schlicht nichts Profitables mehr zu verkaufen aber immer größere Schulden zu begleichen haben, präsentiert sich nun als das Lehrbeispiel der falschen Ökonomie einer ewigen Sparpolitik: Eine Zeitlang läuft alles scheinbar weiter wie vorher, man pinselt über die entstehenden Risse, aber bald schon zerbröckeln überall im Land – nicht nur in Birmingham – buchstäblich die Schulen und Krankenhäuser. Weil es kurzfristig ökonomischer schien, den löchrig gewordenen Beton der Nachkriegszeit nicht zu erneuern.

Und so wie der Beton jener Epoche ist nun auch das Wirtschaftsmodell der Privatisierungsära an seinem logischen Endpunkt angelangt. Und zwar nicht nur dessen alte thatcheristische Spielart, sondern auch die von den Modernisierer:innen der Blair-Ära geprägte, von späteren konservativen Regierungen weitergetragene Variante eines pseudogemeinschaftlichen Makeovers.

„Be Bold Be Birmingham“ - Sei kühn, sei Birmingham! - war der (wie bei solchen Projekten üblich) messianische Slogan für die Commonwealth Games 2022, der immer noch auf der Website der Stadtverwaltung zu lesen ist. Ein internationales Sportfestival, dessen Kosten im Nachhinein auch einiges zur Pleite der Stadt beitrugen. Nicht von ungefähr steht das vor jenen Spielen um umgerechnet 90 Millionen Euro öffentlicher Gelder renovierte und ausgebaute Alexander Stadium heute auf der Liste des großen Gemeinde-Schlussverkaufs.

„Die Wörterbuch-Definition von ‚kühn‘ ist eine Person, Handlung oder Idee, die den Willen zeigt, Risiken auf sich zu nehmen; selbstbewusst und mutig“, tönt der auf der Website archivierte Text, „Birmingham als Stadt und seine Menschen verkörpern genau diese Worte, aber Birmingham hat sich allzu lang vor dem Rampenlicht gescheut. Bis jetzt.“

Wie sich herausstellte, wurden die Commonwealth Games dann doch kein Riesen-Renner wie erhofft, so wie auch das ganze Konzept des Commonwealth als postkolonialer Ersatz für das verblichene Empire immer sichtbarer hinter seiner Rhetorik zurückbleibt.

Aber das damals beschworene Rampenlicht fällt nun jedenfalls wieder auf die Stadt Birmingham. Und Birmingham sieht tatsächlich aus wie die Zukunft.
Wenn auch wie eine Zukunft, die England nicht so gerne sehen will.

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