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Sascha Lobo bei den Österreichischen Medientagen 2023

APA/TOBIAS STEINMAURER

Sascha Lobo sorgt sich

Der deutsche Digitalisierungs-Experte und Spiegel-Journalist Sascha Lobo analysiert in seinem neuen Buch „Die große Vertrauenskrise“ den Vertrauensverlust in Wissenschaft, Information, Politik und die Demokratie.

Von Boris Jordan

Sascha Lobo erklärt. Das ist sein Job, seit über 20 Jahren. Damals hat er begonnen, oft zusammen mit seiner Partnerin in Crime, Kathrin Passig, auf unterhaltsame Weise zur Erhellung der (von ihm) so genannten „digital natives“ beizutragen. Immer noch ist Sascha Lobo einer der profundesten Kenner von allem, was mit der digitalisierten Welt zu tun hat. Doch er beschränkt sich nicht darauf, obwohl ein maßgeblicher Teil seines neuen Buchs sich mit den Folgen der digitalen Verwaltung, der Sozialen Medien und der Künstlichen Intelligenz beschäftigt.

In „Der große Vertrauensverlust“ nimmt Sascha Lobo sich eines durch die Digitalisierung und Globalisierung entstandenen Phänomens an und streift dabei einen großen Teil der aktuellen Probleme der Menschheit. Denn „Vertrauen“ erodiert überall.

Sascha Lobo sorgt sich. Denn „Vertrauen“ bezeichnet er als eine der Kernvoraussetzungen der partizipativen Demokratie – und dieser Form des Vertrauens geht es gar nicht gut.

Buchcover mit Schriftzug: Die große Vertrauenskrise, dahinter ein zerrissenes Seil

Kiepenheuer & Witsch

„Die große Vertrauenskrise“ von Sascha Lobo ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.

Einer der vielen Gründe, die er in seiner Analyse anführt, ist die Überforderung des Einzelnen. Für die derzeitige Gesellschaft, die sich nicht mehr auskennt, sich vor der Zukunft fürchtet oder mit der Gegenwart nicht mitkommt, hat Lobo ein Kürzel parat, das er von amerikanischen Militärstrategen übernommen hat: Wir leben in der „VUCA“-Welt – VUCA steht hier für „Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität“. Selbstverständlich sind diese (relativ neuen) Eckpfeiler einer politischen und wirtschaftlichen Realität nicht gerade geeignet, sorglos oder entspannt in die Zukunft zu blicken. Die VUCA-Welt erfordert andere Strategien, andere Ziele, komplexere Planungsverfahren – und eine höhere Frustrationstoleranz, wenn etwas sich anders entwickelt als angenommen oder ganz allgemein einfach nicht so klappt, wie erhofft.

Diese Verkomplizierung, die Gleichzeitigkeit und die Allgegenwärtigkeit einer Dauerkrise, Weltuntergangs-Szenarios, dazu die Beschleunigung und die großen Zahlen in der digitalen, globalisierten Welt, so Lobos Beobachtung, haben mit dazu beigetragen dass das „Grundvertrauen“, eine der Säulen einer auf Information und Partizipation fußenden Gesellschaftsform wie der liberalen Demokratie, erschüttert ist. Es droht der Vertrauensverlust in die Mechanismen der parlamentarischen Demokratie selbst.

Den großen Institutionen der Moderne - Nationalstaaten, Parlamenten, Verwaltungen, Exekutiven, Leitmedien, Universitäten - wird seit 30 Jahren stetig weniger Vertrauen entgegengebracht. Und das in einem sicherheitsbedrohenden Ausmaß. Nicht wenige Menschen aller Altersgruppen und sozialer Schichten scheinen komplexe, demokratische Errungenschaften achtlos gegen einen charismatischen alten Mann an der Spitze eintauschen zu wollen, von dem jede:r weiß, dass er vorsätzlich lügt und betrügt, und es als cool darstellt, sich nicht erwischen haben zu lassen.

Als Ersatz blüht allerorts das Irrationale, Unbewiesene oder Unbeweisbare. Das allgegenwärtige, dubiose, ungute Gefühl bestimmt das Dasein. Das geht vom gegenseitigen Hochschaukeln von Vorurteilen auf Plattformen wie Telegram oder 4Chan, über das verbissene Festhalten an unüberprüften Behauptungen monströsen Ausmaßes wie „Pizzagate“ oder der „Adenochrom“-Verschwörung, bis hin zum Zweifel an allgemein gültigen, wissenschaftlichen Tatsachen – etwa dass es Viren gibt, die CO2-Anreicherung in der Atmosphäre zu deren Erhitzung führt oder die Erde doch etwas älter als 6000 Jahre und obendrein auch noch rund ist.

Die Verweigerung der Realität ist eine Art Volkssport. Offensichtliche Lügner wie Donald Trump oder Boris Johnson, sowie so mancher der Korruption angeklagte oder überführte Politiker in Deutschland, Österreich und Europa erfreut sich ungebrochener Beliebtheit und wird mit Freuden wiedergewählt.

Die Institutionen der Demokratie, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts funktioniert haben, sorgsam recherchierte, glaubwürdige Medien, unvoreingenommen arbeitende Justiz und Verwaltung, verhältnismäßige Polizei, Politiker und Beamte – all das scheint in einem Meer an Misskommunikation, Meinungspostings und Empörungsspiralen zu ersaufen – und kaum jemand scheint sich daran zu stören, dass diese (teilweise hart erkämpften) Errungenschaften schnell und spurlos verschwinden könnten. Gründe dafür sind vielfältig und, wie Sascha Lobo erklärt, eher real- und wirtschaftspolitisch als digital oder technologisch.

Sascha Lobo führt zu jedem Aspekt des Vertrauensverlusts eine Reihe von Situationen, Katastrophen und Ereignissen an, die mit sehr handfesten Fehlern und zwingenden Realitäten erklärt werden können. Außer der Möglichkeit, in Sozialen Medien jeden Konflikt in ungeahnter Größe austragen zu können, und eine Untätigkeit und Feigheit innerhalb der Institutionen sind das unter Anderen:

  • Die ungerechte Dominanz von Finanz- und Risikokapital, das die Früchte der Globalisierung spektakulär ungerecht verteilt und sich als unbesiegbar, als „too big to fail“ stilisiert hat,
  • die Misskommunikation der Politik im Zuge der Pandemie, die gezeigt hat, dass wissenschaftliches Denken so wenig in der Bevölkerung angekommen ist, dass eine Leistung wie die Entwicklung etwa des mRNA-Impfstoffes durch drei verschieden lautende Tweets aus einer Trollfabrik diskreditiert werden kann,
  • ein Internet, das dereinst als direkte Demokratiehoffnung angetreten, aber jetzt der Ort von Machtmonopolen, Überwachung und faschistischen Ideologien ist,
  • eine Verwaltung, die vom neoliberalen Diktat der „Austerity“ kaputtgespart wird, bis die Leute nicht mehr daran glauben, dass irgendjemand für sie auch nur einen Finger rührt,
  • ein allgemeiner Reform- und Investitionsstau in einer Zeit, in der die gesamte Infrastruktur der letzten 300 Jahre klimafit gemacht werden müsste, und schließlich
  • eine Missachtung der jüngeren Generation, denen klimarettende Maßnahmen zwar in Lippenbekenntnissen versprochen wurden, denen nun aber nichts weiter übrig bleibt, als immer wieder zu insistieren, dass endlich, endlich etwas getan werden muss.

Das macht auch Sascha Lobo am Ende des Buches. Und wer es gelesen hat, sollte dabei mitmachen.

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