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A person looks at Mark Rothko's "No. 7", part of The Macklowe Collection, at Sotheby's on November 5, 2021 in New York City

ANGELA WEISS / AFP / picturedesk.com

ROBERT ROTIFER

Über das Recht auf Sprachlosigkeit vor dem Entsetzen

Überall, wo man dieser Tage hinschaut, wird Stellung bezogen und Flagge gehisst. Sich nicht zu den Gräueln in Israel und den palästinensischen Gebieten zu äußern, erscheint als Prinzipienlosigkeit, Feigheit, Gleichgültigkeit, sogar Gutheißen der Grausamkeiten. Die Räume des richtigen Verhaltens werden immer enger. Doch es gibt auch gute Gründe, die Teilnahme an der Eskalation zu verweigern.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Was ich hier schreiben will, muss ich ganz strikt abstrakt halten.

Ich muss es abstrakt halten, um nicht selbst in den Sog dessen zu geraten, worüber ich schreiben will: den seit Tagen vor meinen Augen, auf meinen Bildschirmen eskalierenden Schlagabtausch und die wuchernde Wut in sozialen, aber auch anderen Medien.

Es sei jetzt an der Zeit, Farbe zu bekennen, schreibt der eine. Keine Entschuldigung gelte mehr, jede:r sei aufgerufen, sein/ihr öffentliches Bekenntnis abzulegen, für etwas einzustehen. Die andere teilt Screenshot um Screenshot von Ungeheuerlichkeiten, die wieder andere, ihrerseits Farbe bekennende, für etwas Einstehende ins Internet abgefeuert haben. Sie macht darauf aufmerksam, dass sie noch viel mehr davon gesammelt habe. Falls jemand was daraus machen wolle.

Noch andere wissen bereits vorherzusehen, wer wie in den Geschichtsbüchern der Zukunft beurteilt würde. So als hätte es je so etwas wie einen objektiven Konsens der Geschichtsbücher gegeben. So als wären wir sicher, dass es am Ende dessen, was wir gerade erleben, noch Geschichtsbücher geben wird.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Man sieht, wie Menschen und Meinungen einander konfrontieren und/oder konform zu ihrer jeweiligen Herkunft bestärken, nicht nur in ihrer jeweiligen Zugehörigkeit zu diesem oder jenem Lager, sondern auch – ein seltener positiver Eindruck, der einen dann doch an die Menschheit glauben lässt – wie sie umso mehr menschliche Empathie für das Leid der jeweils andere Seite aufzubringen scheinen, je näher sie persönlich in den Konflikt, die Tragödie, die Folgen von Verbrechen verwickelt sind.

Und man sieht andere diese Stimmen zurechtweisen, aus der Sicherheit ihrer tatsächlichen Distanz in der Distanzlosigkeit des digitalen Raums. Ja am Radikalsten, Entschiedensten äußern sich oft jene, die ich bisher nicht vordringlich als politische Stimmen kannte.

Ich kann mir gut vorstellen, wie sie schon beim ersten Satz meines Texts durch die Decke gehen: Wie kann man angesichts des Geschehenen abstrakt bleiben wollen? Ist dieser blutleere Zugang unter blutigsten Umständen nicht auch eine Form von Verharmlosung? Ich verspreche, noch darauf zurückzukommen.

Und natürlich sind da auch wieder die Fahnen, in die die Leute ihre Avatare hüllen, so als wären wir bei einem Fußballmatch. Andererseits: Mokiere ich mich darüber, mache ich mich selbst bloß zum Gegenstück derer, die andere zum Hüllen ihrer Avatare in die jeweilige Fahne moralisch verpflichten wollen.

Auch vor den Fahnenträger:innen muss ich mich daher bereits vorsorglich entschuldigen, wenn ich will, dass sie mir hier bis zum eigentlichen Punkt folgen.

Gestern also, weniger als eine Woche seit dem Überfall der Hamas auf Israel:

Ein öffentlich schreibender und redender Mann, den ich bisher immer für vernünftig hielt, bezichtigt vor meinen Augen eine Frau der Bagatellisierung von Massakern, weil sie es gewagt hat, den Tod unschuldiger Kinder auf beiden Seiten zu bedauern.

Eine Frau, deren Stimme ich im Kontext einer anderen Debatte vertraut habe, ordnet unter Gebrauch des unter Englischsprachigen habituellen, performativ abgebrühten Sarkasmus selbst noch die größten Gräuel der unausweichlichen Logik, ja der Gerechtigkeit der Geschichte unter.

Wie ich all das lese, finde ich mich plötzlich völlig unvorhergesehen (Ist es mein Alter? Ist es meine Hautfarbe?) auf der Seite derer wieder, die das Ende des „Universalismus“ beklagen, als Verlust der Voraussetzung für einen allzu leichtfertig als zivilisatorisch selbstverständlich vorausgesetzten Antirassismus und den Glauben an eine mögliche, bessere Welt.

Ich teile dabei die Kritik am „Universalismus“, dass jener doch nie einer gewesen sei, sondern im Gegenteil eine Anmaßung und Projektion, deshalb auch meine Anführungszeichen. Ich sehe vor mir in Echtzeit allerdings auch das inflationäre Anwachsen des hohen Preises, den die Menschheit dafür bezahlt, wenn sie den grundsätzlichen Glauben an ihr Gleichsein lieber aufgibt, anstatt ihn neu zu erfinden. Aber ich muss mich hier wieder selbst zurückpfeifen: Heftig kopfschüttelnde Verachtende des „Universalismus“-Diskurs selbst, duldet mein Abschweifen und bleibt noch ein paar Absätze bei mir.

Meanwhile on my timeline weiß man jeweils, wer es in dem Blutbad, dem wir aus der Ferne beiwohnen, verdient hat zu sterben, weil sie als Teil der einen oder anderen Seite automatische Mitschuld tragen. Nicht etwa ihrer Ethnizität oder ihres Glaubens wegen, wir sind doch keinen Rassist:innen, oder halten uns zumindest nicht dafür. Nein, sondern weil jene Menschen es bisher nicht geschafft oder genug Willen gezeigt hätten, sich gegen das Böse über ihnen oder um sie herum aufzulehnen. Das macht sie also mitschuldig, so wie wir es auch aus der Geschichte unserer Groß- oder Urgroßeltern zu wissen glauben, deren Lektionen wir nun auf andere anwenden, wiewohl wir selbst uns machtlos fühlen gegenüber den politischen Machtverhältnissen in unserer eigenen, vergleichsweise gefahrlosen Gesellschaft.

Die gegenseitigen moralischen Maßregelungen werden dementsprechend immer schärfer. Die Räume des Sagbaren werden bis zur Erstickung verengt. Versuche, zu verstehen oder zu erklären, wie die Menschheit zu diesem Gemetzel gelangt ist, ja die bloße Beschreibung von Hintergründen, die nicht allen bekannt sein könnten und können, werden bereits als unannehmbare Parteinahme, zumindest als Relativierung ausgelegt und somit geradezu gleichbedeutend der Mittäter:innenschaft.

Auch jene, die sich der Stimme enthalten, werden zur Rechenschaft gezogen: „Ihr, die ihr schweigt, wo ihr doch sonst immer was zu sagen habt“, sagen die einen wie die anderen, „euer Schweigen spricht Bände.“

Ein Autor, dessen politische Meinungen ich sonst oft teile, attackiert wiederum jene, die dasselbe zu formulieren versuchen wie ich mit dieser Kolumne: Das sei ja ein feiner feiger Ausweg, meint er, statt sich selbst zu positionieren, lieber schulmeisterlich über die Konfliktführung im Netz herzuziehen.

Aber wie oben schon gesagt: Ich muss abstrakt halten, was ich hier schreibe.
Und mit einem Mal erinnert mich diese in Anbetracht all der erwähnten Stellungnahmen unausweichlich rationale Notwendigkeit der Abstraktion an die Maler:innen, Komponist:innen und Dichter:innen nach den beiden großen Weltkriegen, die auch damals bekanntlich ihre Kunst abstrakt hielten, weil das Unbegreifliche des Erlebten nicht zu fassen war, weil ihnen alles Figurative, Konkrete, alles „Realistische“ als die größte Lüge erschien.

Ich erinnere mich auch an meine eigene Arroganz gegenüber dieser historischen Attitüde, an mein Herabblicken auf die scheinbare Scheu vor der Aussage und das Prätentiöse im Versuch, jene verweigerten Aussagen erst recht zu interpretieren, die kollaborative Kompliz:innenschaft zwischen den Schaffenden und den Interpretierenden des Nichtssagenden.

Ich verstehe diese meine Arroganz jetzt erst als Luxus aus verwöhnten Friedenszeiten. Als das Vertreten von Anliegen noch weitgehend kostenlos war, für die Vertretenden so wie für die Betretenen.

Ich erkenne die von mir einst herablassend bemitleidete Nachkriegsskepsis gegen alles Romantische, dessen spätere Rehabilitierung durch die Popkultur ich immer so vollmundig begrüßt hatte. Ich sehe in Nachrichtensendungen Interviewte der einen oder anderen Seite Botschaften über die Unbeugsamkeit ihres Volkes vortragen und höre dabei gleichzeitig das 19. Jahrhundert sprechen, aber auch den Monolog des Arminius der Netflix-Serie vor der Schlacht im Teutoburger Wald.

Und ich glaube, ich begreife zum ersten Mal die Wichtigkeit des Rechts, angesichts des Unfassbaren, des Unsagbaren, des Unbeschreiblichen sprachlos zu sein und nichts zu sagen. Nichts zu sagen als ultimativer Ausdruck von Respekt, Mitgefühl und Entsetzen.

Ich weiß aber auch, dass das Nichtssagen in unserem Geschichtsverständnis zurecht mit Mitläufer:innentum assoziiert wird. Aber vergebt mir und nennt mich einen alten Gen X-Pseudo-Boomer, wenn mir dazu nicht glatt die Schlüsselzeilen der Schlüsselzeilen aus Bob Dylans „A Hard Rain’s A-Gonna Fall“ einfielen: „Then I’ll stand on the ocean until I start sinkin’ / But I’ll know my song well before I start singin’“.

Und gleichzeitig weiß ich noch was, nämlich, dass es hier um alles geht, nur nicht um mich. Das wiederum bedeutet auch, mich selbst nicht so wichtig zu nehmen, meine Wut, meinen Zorn, meine Verwunderung darüber, was und wieviel andere an Stellungnahmen auswerfen, nicht über das Entsetzen selbst zu stellen. Genug Empathie aufzubringen, um auch zu verstehen, dass für andere ihr Stellungnehmen ihre Art des Umgangs mit dem Unbegreiflichen ist.

Ich sehe Freund:innen und Bekannte, die für mich unerträgliche Bigotterien in beide Richtungen in die Welt werfen, und beschließe, sie erst recht nicht zu entfreunden, zu verachten, vor allem, mich nicht davon zum Mitmachen provozieren zu lassen, auch wenn ich meine, den Schaden zu sehen, den sie damit rund um sich anrichten.

Wer weiß, vielleicht gibt es ja auch Leute, die sich bzw. einander in den Scheingefechten zwischen den Schützengräben algorithmisch individualisierter Timelines der in der Parlance naiver Frühnetzzeiten so genannten „Socials“ erfolgreich abreagieren. Würde ich ihnen das Recht darauf absprechen, wäre das nicht ebenfalls bloß die Umkehr der Selbstherrlichkeit, mit der manche von ihnen mir das Recht auf Sprachlosigkeit absprechen?

Und doch muss ich zugeben, dass ich da sehr wohl einen harten Regen kommen sehe. Nicht nur den noch größeren, noch weiter sich potenzierenden Krieg, sondern auch das, was jenen genauso ermöglicht wie die darin eingesetzten schweren Waffen. Nämlich den Weg der geistigen und seelischen Verrohung, der von der Eskalation der Worte befördert wird.

Ich stelle mir vor, wie diese Eskalation in den Tagen vor und während der letzten beiden Weltkriege sich zutrug. In den Cafés und Wirtshäusern, in Waschküchen und Fabrikskantinen, in den Vordergärten der Vorstädte und den Hinterzimmern der Ministerien. Wie immer ist also die Versuchung da, einander abgeklärt zu versichern, dass es ja nie anders gewesen sei.

Ich weiß natürlich auch, dass die Macht der sozialen Medien für die meisten bloß eine vorgestellte ist. Dass es zum Verkaufsmodell dieser Medien gehört, den Teilnehmenden die Illusion des in Wahrheit konsequenzfreien Sichtbar- und Hörbarmachens zu verkaufen, die Öffentlichkeit in Wahrheit nur sich selbst fütternder Blasen. Aber das ändert nichts an der Echtheit der dabei erzeugten Erregung. Und die macht mir inzwischen ernsthaft Angst.

Ich fürchte nämlich, dass jene Erregung am Ende dieser Spirale irgendwann auch Menschen, die ich kenne, vielleicht sogar mich selbst zum Tun unsagbarer Dinge fähig machen wird. Das nicht zu glauben, hieße schließlich zu glauben, wir seien von Geburt her die besseren Menschen. Und das, so viel weiß ich jedenfalls, sind wir mit Sicherheit nicht.

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