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Buchcover "Betrug" von Zadie Smith

Kiepenheuer & Witsch

„Betrug“: Erster historischer Roman von Starautorin Zadie Smith

England im 19. Jahrhundert: Eine unkonventionelle Frau, ein mittelmäßiger Schriftsteller, ein aus der Sklaverei befreiter Jamaikaner und ein mutmaßlicher Betrüger sind das bunte Personal von „Betrug“. Die britische Star-Autorin Zadie Smith hat sich damit zum ersten Mal einen historischen Stoff vorgenommen.

Von Jenny Blochberger

William Ainsworth ist von seiner eigenen Großartigkeit als Schriftsteller überzeugt – wenn auch sonst niemand. Nach einem einzigen Bestseller (der sogar mehr verkauft hatte als Charles Dickens‘ „Oliver Twist“) fabriziert Ainsworth nur mehr langatmige, blumige Romane mit seitenlangen Schilderungen von Wohnungsinterieurs und Getreidefeldern. Kein Wunder, dass er mit seiner Familie regelmäßig in kleinere Domizile umziehen muss. Stets an seiner Seite: seine Cousine, Haushälterin und zeitweise Geliebte Eliza Touchet (französisch ausgesprochen), die das Leben ihres lebensunfähigen Cousins managet. Seine Frau Anne Frances stirbt jung, was ihn wesentlich weniger hart trifft als Eliza, die über die große Liebe zu ihrer Frances nicht hinwegkommt. Ihr eigenes schreiberisches Talent schlummert unerweckt tief in ihr drinnen, während sie als scharfäugige Lektorin für die drögen Textwüsten Ainsworths herhalten muss und als Behübschung der männlichen Autorenrunde – darunter Dickens und Thackeray - Wein ausschenken darf.

Das geht einige Jahrzehnte so, bis Ainsworths neue, deutlich jüngere Frau Sarah eine Obsession entwickelt und Eliza damit ansteckt. Sarah ist ein ungebildetes ehemaliges Dienstmädchen, das fasziniert den Tichborne-Prozess verfolgt: Ein Mann behauptet, der verschollen geglaubte Adelige Roger Tichborne zu sein. Sogar Lady Tichborne, die Mutter des Adeligen, erkennt in ihm ihren Sohn. Dagegen spricht, dass der Kläger dem Verschollenen so überhaupt nicht ähnlich sieht. Roger Tichborne war schlank, hatte eine Tätowierung und seine Muttersprache war Französisch; der Kläger ist dick, hat keine Tätowierungen und kann kein Französisch.

Buchcover "Betrug" von Zadie Smith

Kiepenheuer & Witsch

„Betrug“ von Zadie Smith („The Fraud“ im Original) ist bei Kiepenheuer & Witsch in einer Übersetzung von Tanja Handels erschienen.

Trotzdem sind viele Beobachter:innen aus dem Volk überzeugt davon, dass er die Wahrheit sagt und dass die Eliten ihn nur zum Schweigen bringen wollen, wie sie es immer mit den „kleinen Leuten“ tun – dabei außer Acht lassend, dass er, wenn er die Wahrheit sagte, ja gar keiner von den „kleinen Leuten“ wäre. Auch Sarah sieht in dem Kläger einen Kämpfer gegen das System und damit einen Helden. Eliza sieht das zwar ganz anders, aber auch sie ist fasziniert von diesem Fall – und von einem der Zeugen, einem Jamaikaner namens Andrew Bogle. Der alte Mann mit dem „ehrlichen Gesicht“ macht auf alle, die ihm begegnen, einen integren und aufrichtigen Eindruck. Und er schwört, dass der Kläger der echte Roger Tichborne ist.

Als Eliza sich als Journalistin ausgibt, die an der Wahrheit interessiert ist, erzählt Andrew Bogle ihr seine Lebensgeschichte. Dieser Einschub führt uns fast 100 Seiten lang ins Jamaika des 19. Jahrhunderts, wo Bogle unter britischen Kolonialherren als Sklave leben und arbeiten musste. Hatten wir zuvor Elizas Leben als ledige, mittellose, von männlichen Verwandten abhängige Frau im viktorianischen England als bedrückend empfunden, so erfahren wir in Bogles Erzählung von den abgrundtiefen Schrecken, die die versklavte jamaikanische Bevölkerung erleben musste, die geschunden und entmenschlicht wurde und deren persönliche Beziehungen gedankenlos zerstört wurden, wenn es den Sklavenhaltern so besser passte.

Autorin Zadie Smith erklärt im Gespräch dazu, dass sie sich dessen bewusst sei, dass es immer jemanden gäbe, dem es schlechter gehe – aber dass es möglich sein müsse, Dinge zu vergleichen:

Zadie Smith: Was ich an den Viktorianern spannend finde ist, dass sie in der Lage waren, diese Art von Vergleichen zu ziehen, zwischen Sklaverei und Zwangsarbeit, oder den Baumwollarbeiter:innen in Manchester und den Baumwollarbeiter:innen in Amerika. Sie verstanden, dass man politische Vergleiche zwischen Leuten anstellen kann, die sehr unterschiedlich sind.

FM4: Es entwertet nicht den eigenen Kampf, wenn man sich darüber klar ist, dass es andere Kämpfe gibt, die vielleicht härter sind.

Genau. Das ist einfach meine Erfahrung, dass es immer jemanden gibt, dem es schlechter geht als einem selbst. Ich erinnere mich, dass ich als Kind dachte, ich sei arm – und dann war ich bei Freunden daheim und mir wurde klar, also nein, ich bin nicht arm. Es ist auf jeden Fall eine wichtige Erkenntnis, dass man nicht die einzige Person auf der Welt ist, die leidet.

Zadie Smith

Ben Bailey-Smith

Zadie Smith wurde 1975 im Norden Londons geboren. Ihr erster Roman „Zähne zeigen“ („White Teeth“, 2001) wurde ein internationaler Bestseller und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Der Roman „Von der Schönheit“ („On Beauty“, 2005) war auf der Shortlist des Man Booker Prize und gewann den Orange Prize. Zadie Smith erhielt u.a. den Welt-Literaturpreis und den Österreichischen Staatspreis für europäische Literatur. Sie lebt mit ihrer Familie in London.

Was hat Sie speziell zum Fall Tichborne hingezogen?

In der viktorianischen Zeit gab es eine große Kluft zwischen Reichtum und Armut – und diese Situation, ohne Mittelschicht, begünstigt Betrügereien. Denn wenn man sonst keinerlei Möglichkeit hat, aufzusteigen, muss man sich eben verstellen.

In allen Ihren Büchern geht es in gewisser Weise darum, wie sich Menschen verstellen. Um den Unterschied zwischen dem Bild, das man selber von sich hat, und dem, wie man sich anderen Menschen präsentieren möchte.

Mich interessiert dieser Teil unseres sozialen Lebens – diese Performance. Und der Fall Tichborne ist ein gutes Beispiel einer extremen Performance.

Ihr Arsenal an Figuren ist so reichhaltig und Ihre Erzählung deutet oft weitere Geschichten an, die aber nicht weiterverfolgt werden, was ja der Story dient – aber trotzdem will man oft Nebenfiguren folgen, weil die eine weitere spannende Geschichte versprechen. Das macht Ihr Schreiben auch aus, weil es immer mehr gibt als das, was da auf der Seite steht. Wie geht es Ihnen selbst mit diesen vielen unvollendeten Geschichten?

Ja, ich habe tatsächlich ein Problem mit dieser Fruchtbarkeit. Ich könnte immer weitermachen, immer mehr erzählen – aber ich halte mich zurück, um der Leser:innen willen. Ich spinne mir auch nicht für mich selbst die unvollendeten Geschichten zusammen. Das Schreiben ist das, bei dem ich mir Dinge vorstelle, sonst nirgends.

In welche Genres oder Themen möchten Sie noch vordringen? Ich wäre etwa sehr interessiert daran, einmal etwas in Richtung Science Fiction von Ihnen zu lesen.

Tatsächlich schreibe ich gerade an einer Fernsehserie, die in Richtung Science Fiction geht, jedenfalls ist die Technologie futuristisch. Aber ich denke nicht in Genres – ich überlege nicht, dass ich jetzt einen historischen Roman oder einen Science-Fiction-Roman schreiben will; ich finde einfach etwas, was mich interessiert, verfolge das und dann enthält es manchmal eines dieser Elemente.

Gibt es eine bestimmte Sache, von der Sie sagen, dass Sie Ihnen als Schriftstellerin am meisten geholfen hat?

Lesen. Das einzige, was hilft, ist Lesen. Einfach eine große Bandbreite an Dingen lesen. Jetzt gerade lese ich Virginia Woolfs Tagebücher, was ich sehr genieße, außerdem eine hervorragende Neuübersetzung der Odyssee, und ich habe gerade ein sehr gutes Buch von einem nigerianischen Autor gelesen, das noch nicht erschienen ist, es heißt „Blessings“.

Wie kann man sich Ihren Schreibprozess vorstellen?

Ich schicke meine Kinder in die Schule und setze mich an meinen Schreibtisch. Das war’s eigentlich. Es ist einfach ein Job wie jeder andere.

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