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Deborah Feldman und der „Judenfetisch“

Am Wochenende hätte die US-amerikanisch-jüdische Autorin Deborah Feldman im Wiener Gartenbaukino aus ihrem neuen Buch „Judenfetisch“ gelesen. Die Veranstaltung ist jedoch abgesagt worden: das Kino befürchte „Polarisierung“ statt „Mehrwert“. Warum Feldman polarisiert und worum es in ihrem neuen Buch geht.

Von Melissa Erhardt

Eigentlich hatte Deborah Feldman schon abgeschlossen mit ihrer jüdischen Identität. Als sie 2014 nach Deutschland zieht, will sie einfach nur Deutsche unter Deutschen, Berlinerin unter Berlinern sein. So einfach gelingt ihr das aber nicht: „Ich befinde mich in einem Schachmatt: Deutschsein geht für mich nur mit dem Jüdischsein (…) und der Preis, den ich dafür bezahle, ist die Auseinandersetzung mit etwas, das das Amerikanischsein nie von mir gefordert hätte.“

Deborah Feldman ist derzeit wohl eine der prominentesten jüdischen Stimmen in Deutschland. Seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober war die Autorin in zahlreichen Talkshows zu Gast und sprach sich dort immer wieder für eine differenzierte Sicht auf die Situation im Nahen Osten aus. „Ich bin der festen Überzeugung, dass es nur eine legitime Lehre des Holocausts gibt“, sagt sie Anfang November etwa bei Markus Lanz im ZDF, „und das ist die absolute, bedingungslose Verteidigung der Menschenrechte für alle. Punkt. Wer den Holocaust instrumentalisieren will, um weitere Gewalt zu rechtfertigen, hat seine eigene Menschlichkeit verwirkt.“ In derselben Show kritisiert Feldmann die deutsche Bundesregierung dafür, jüdisches Leben nur selektiv zu schützen – und zwar nur dann, wenn deutsche Jüd:innen mit der israelischen Regierung auf einer Linie sind. „Germany is a great place to be jewish“, schreibt sie wenige Tage später im Guardian: „Unless like me, you’re a Jew who criticizes Israel.”

Mit ihren Aussagen polarisiert Deborah Feldman, nicht selten wird ihr von anderen Jüd:innen Israelhass oder gar Antisemitismus vorgeworfen. Wer sich ein umfassenderes Bild dazu machen möchte, tut nicht schlecht daran, ihr Ende August erschienenes Buch „Judenfetisch“ zu lesen: Eine mal geordnetere, mal chaotischere Sammlung ihrer Gedanken zu aktuellen innerjüdischen, gesellschafts- und identitätspolitischen Fragen, zu Deutschland und Israel. Die Rahmenhandlung dafür bildet eine Reise nach Jerusalem, wo sie als Repräsentantin des „neuen deutschen Judentums“ am Holocaust-Gedenktag im Yad Vashem teilnehmen soll.

Die Fetischisierung von Identität

In den knapp 300 Seiten denkt Feldman sehr ausführlich über die Zunahme des religiösen Fanatismus in Israel nach und versucht aufzuzeigen, warum Religion und Demokratie nicht miteinander vereinbar sind. Sie rätselt über die Frage, was es eigentlich bedeutet, im Jahr 2023 jüdisch zu sein – vor allem dann, wenn man sich, wie Feldman, als liberale Jüdin von Religion gewissermaßen distanzieren, seine Identität aber nicht nur durch den Holocaust begründen möchte. Denn eine Identität, so schreibt sie, „die nur mit der Erinnerung an eine Erfahrung zusammenhängt, aber nicht mehr mit der Erfahrung selbst, kann nur sehr mühsam fortgeführt werden.“

Buchcover "Judenfetisch"

Luchterhand

„Judenfetisch“ ist am 30. August 2023 im Luchterhand Verlag erschienen.

Im Prinzip geht es ihr dabei um die Freiheit, selbst zu entscheiden, wer man sein möchte – eine gewisse Loslösung also von der heutigen „Fetischisierung“ von Identität, wie sie schreibt: „Performance einer Identität macht diese nicht stärker, stabiler oder wahrhaftiger, im Gegenteil, je mehr sich die öffentliche Repräsentation von der Wahrhaftigkeit des Individuums abspaltet, desto unsichtbarer und unwirksamer wird dieses Individuum in der Gesellschaft.“ Gerade weil Feldman in ihrer Kindheit und Jugend eine „Überdosis“ des Judentums erhalten habe, sei sie umso stärker von der „Sehnsucht getrieben“, ihr Leben möglichst frei zu gestalten: „Umstände mögen vorschreiben, welche Rollen wir zu welchen Zeiten spielen, aber selbst dann sind wir frei zu wählen, wie wir uns selbst und wie wir die anderen sehen wollen.“

Das deutsche Judentum als „Performance“

Diese Wahl würde Deutschland aber nicht zulassen – und damit widmet Deborah Feldman sich dem Hauptargument, das sie in „Judenfetisch“ macht. Denn: Nirgendwo auf der Welt würde Jüdischsein so intensiv verhandelt werden wie in Deutschland. Die Ansprüche an jüdische Deutsche seien zu hoch, niemand sei „jüdisch genug“, man lebe als Jüdin im Endeffekt nur als Denkmal für andere. Das Ganze beschreibt sie als „Judenfetisch“, ein Zustand, der den deutschen Juden zum Opfer eines Diskurses macht:

„Neutralität gegenüber dem Judentum scheint unmöglich. Damit zu spielen und davon zu profitieren, haben viele Juden wie Nicht-Juden gelernt, und das Ergebnis ist ein permanent aufgeführtes Varieté, das mit dem echten jüdischen Leben in diesem Land nichts zu tun hat.“

Deborah Feldman ist eine US-amerikanisch-deutsche Autorin.

Sie kommt 1986 zur Welt und wächst bei ihren Großeltern, aus Ungarn stammenden Holocaustüberlebenden, in einer ultraorthodoxen jüdischen Glaubensgemeinschaft im Stadtteil Williamsburg auf.

Die Glaubensgemeinschaft der Satmarer Chassiden sieht den Holocaust als Strafe Gottes für die übertriebene Assimilierung und die fehlende Frömmigkeit der europäischen Juden. Sie lehnen den Zionismus strikt ab: nur der von Gott gesandte Messias hätte das Recht, einen jüdischen Staat zu gründen.

Mit Anfang Zwanzig verlässt Feldman gemeinsam mit ihrem Sohn die Gemeinschaft, lebt zunächst in den USA und seit 2014 in Berlin.

2012 erscheint ihr autobiografischer Roman „Unorthodox“, der als Grundlage für die gleichnamige vierteilige Netflix-Serie dient. 2015 folgt der Roman „Exodus: A Memoir“, 2023 der autobiografische Essay „Judenfetisch“.

Das deutsche Judentum als Performance also. Viele deutsche Juden und Jüdinnen seien demnach nur „inszenierte Jüd:innen“, Konvertiten etwa, die von der Situation in der Bundesrepublik profitieren würden. „Wahrhaftige“ deutsche Juden seien in Deutschland gar nicht gewollt: Nicht, “wenn es eine bessere Version gäbe, die sich politischen Zwecken dienlicher erwiese.“ Der „Judenschein“ funktioniere heute wie eine „VIP-Karte“, stellt sie an einer anderen Stelle erstaunt fest. Es sei eine ungeheure Ironie: „Diese Umkehrung der Verhältnisse ist kaum zu glauben.“

Solche Aussagen sorgen für viel Kritik, spielen sie doch genau der antisemitischen Rhetorik des Jüdischseins als Allmacht in die Hände. Auch vor dem Hintergrund eines steigenden Antisemitismus ist es fast zynisch, das Judentum als „VIP-Karte“ zu beschreiben – auch wenn Feldman in der exakten Textstelle auf etwas anderes anspielt. So sei es für Geflüchtete, die eine jüdische Familiengeschichte nachweisen können, etwa leichter, die deutsche Staatsbürgerschaft zu bekommen. Die im Buch von anderen (jüdischen) Personen getätigte Aussagen, manche Flüchtlinge des russischen Angriffskrieges würden diese jüdische Familiengeschichte deshalb erfinden oder sich dabei auf weit entfernte, jüdische Verwandtschaft berufen, lässt sie einfach stehen – ebenso wie die Aussage, dass viele seit Jahrzehnten in Deutschland lebenden Sowjetjuden gar keine „richtigen“ Juden seien, sondern lediglich „Papierjuden“. Das sorgt für harsche Kritik.

Bei solchen Stellen fragt man sich, ob diese Aussagen tatsächlich notwendig waren, um ihr Argument des verzerrten jüdischen Lebens in Deutschland zu untermauern – oder ob sie damit nicht genau in dasselbe obsessive Verhalten gegenüber dem Judentum hineinkippt, das sie der deutschen Nachkriegsgesellschaft vorwirft. Als nicht-jüdische Leserin hätte zumindest ich mir gewünscht, sie hätte sich hier länger Zeit gelassen, um ihre Gedanken und Argumente zu sortieren und genauer einzuordnen.

Insgesamt ist „Judenfetisch“ an vielen Stellen sehr stark; speziell dann, wenn es um allgemeine Fragen zu (jüdischer) Identität geht oder Feldman vor einer Zunahme fundamentalistischer Strömungen in Israel warnt. So dürfe die Vergangenheit auf keinen Fall für demokratiepolitisch fragwürdige Entwicklungen instrumentalisiert werden, was laut Feldman auch für eine überarbeitete Auseinandersetzung mit dem Holocaust spricht. Wie so eine genau ausschauen kann, lässt sie offen. An manchen Stellen wirken die Aussagen Feldmans aber unklar und problematisch. Genau deshalb wäre es so wichtig, darüber zu diskutieren, zu reden und diese Polarisierung auch auszuhalten. Dass das Gartenbaukino das anders sieht, ist, sagen wir es so, schade.

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