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Buchcover "Wo ich wohne ist der Mond ganz nah" in rosa&gelb mit einer Frau und Schrift

Kiepenhauer & Witsch

Cho Nam-Joo: "Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah“

Nach dem Weltbestseller „Kim Jiyoung, geboren 1982“ ist ein weiterer Roman der südkoreanischen Autorin Cho Nam-Joo ins Deutsche übersetzt worden. „Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah“ ist eine nüchterne Erzählung über das Leben, wie es oft sein kann: eintönig und desillusionierend.

Von Melissa Erhardt

Seoul, Winter 2015. Go Mani ist 36 Jahre alt, unverheiratet und lebt zusammen mit ihren Eltern in einem kleinen Haus in S-dong, einem der ärmsten Viertel Seouls. Es ist ein sogenanntes „Mondviertel“: Steile Hügel, enge Gassen, lückenlos bebaut - und dem Mond besonders nah, so sagt man. Bald soll das Viertel aufgewertet werden, das verspricht die Stadtregierung. Die ein- bis zweistöckigen kleinen Häuser sollen weg, moderne Hochhauswohnungen her.

Mani geht apathisch durchs Leben, ist ständig schläfrig und niedergeschlagen. Sie hat keine Freund:innen, keine Hobbies, keine Beziehung, geschweige denn eine Ehe. Dabei hätte sie ja eigentlich nur eine Anforderung an einen potentiellen Partner: Er sollte eine Spültoilette haben, die „erste Grundbedingung eines menschenwürdigen Daseins“. Als sie nach zehn Jahren im selben Büro von einen Tag auf den anderen entlassen wird, verliert sie jeden Halt. Ablenkung von ihrem wirren Gedankenstrudel bietet nur mehr ihr kleiner, dreieckiger MP3-Player mit südkoreanischen Pop der 2010er, den sie sich von ihrem ersten Gehalt geleistet hat.

Buchcover "Wo ich wohne ist der Mond ganz nah" in rosa&gelb mit einer Frau und Schrift

Kiepenhauer & Witsch

„Wo ich wohne ist der Mond ganz nah“ ist bei Kiepenhauer & Witsch erschienen. Übersetzt wurde es von Jan Henrik Dirks.

Dabei hatte Go Mani ja eigentlich Träume. Als kleines Mädchen will sie unbedingt rhythmische Sportgymnastin werden, inspiriert durch Fernsehbilder der Olympischen Spiele 1988 in Seoul. Ihr großes Vorbild: Die rumänische Olympiasportlerin Nadia Comaneci. Mani beginnt zwar selbst zu turnen, sie merkt aber schnell: Erstens reicht das Talent nicht, vor allem aber reicht das Geld hinten und vorne nicht.

Die prekäre Schicht Seouls

„Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah“, ist nach „Kim Jiyoung, geboren 1982“ und „Miss Kim weiß Bescheid“ das dritte Buch der südkoreanischen Autorin Cho Nam-Joo, das ins Deutsche übersetzt worden ist. In Südkorea ist die erste Auflage des Romans bereits 2016 erschienen, zeitgleich also mit „Kim Jiyoung, geboren 1982“. In beiden Romanen schreibt Cho Nam-Joo über gewöhnliche Frauen in ihren 30ern, die eigentlich ein recht monotones Leben führen, aber mit bestimmten Strukturen zu kämpfen haben - seien diese jetzt patriarchaler oder kapitalistischer Natur. Mit „Kim Jiyoung, geboren 1982“ ist Cho Nam-Joo dadurch ein Weltbestseller gelungen, der in Südkorea eine nationale Debatte über Geschlechterungerechtigkeit angestoßen hat. Ob das mit „Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah“ nochmal gelingt, ist fraglich, der Roman hat aber seinen ganz eigenen Reiz.

Mithilfe von Rückblenden erzählt Cho Nam-Joo darin aus der Ich-Perspektive Manis nüchtern über zerplatzte Hoffnungen und unerfüllte Träume, über das Leben, wie es halt oft sein kann: Eintönig und desillusionierend: „Ernste Gesichter, entschlossene Blicke. Niemand ist glücklich, doch auch niemand betrübt“, schreibt sie, „es leben alle nur fleißig ihr Leben.“

Wir erfahren im Roman einiges über die teils problematische Stadtentwicklung Seouls und dessen Auswirkungen (Stichwort: Vertreibung) auf die ärmere Bevölkerung, zu der auch Mani und ihre Familie gehört. Über Armut erzählt Cho Nam-Joo nüchtern, ohne Mitleid erregen oder auf die Tränendrüse drücken zu wollen. Hoffnung, Sehnsucht, oder rebellischer Widerstand flammen meist nur kurz auf, bevor sie wieder von der Monotonie überrollt werden. Mani gehört zu einer Generation, die sich mit dem „erbärmlichen Leben“ abfinden hat müssen.

„Manche Dinge änderten sich nicht in dieser Welt, die sich so rasend schnell veränderte. Fleißige und gewissenhafte Leute blieben weiterhin fleißig und gewissenhaft, und trotzdem blieben sie als arme Leute weiterhin arm.“

Manchmal lässt sich Cho Nam-Joo mit dem Erzählen etwas zu viel Zeit, manchmal wünschen wir uns, noch etwas tiefere Einblicke in das Seelenleben der Figuren zu bekommen, vor allem in das der Mutter und des Vaters. Lesenswert ist der Roman aber alle mal – vor allem, wenn man ein Abbild vom prekären Seoul fernab des hochtechnologisierten Großstadtlebens bekommen möchte.

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