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Filmstill aus "Poor Things"

Searchlight Pictures

FILM

Wie feministisch ist „Poor Things“ in den Augen einer Sex-Bloggerin?

11 Oscar-Nominierungen, die Kritik jubelt, Hauptdarstellerin Emma Stone wird gefeiert. Im FM4-Gespräch macht sich die Journalistin, Autorin und Sex-Bloggerin Catrin Altzschner über die Faszination des Films Gedanken.

Von Christian Fuchs

Die ganz einfache Variante dieser Geschichte könnte lauten: Radikaler griechischer Kunstregisseur biedert sich an Hollywoods Studiosystem an - und wird zum Star der roten Teppiche. Aber dieser schlichte Vorwurf beschreibt nicht einmal annähernd die Realität rund um „Poor Things“ und Yorgos Lanthimos.

Der in Athen geborene Filmemacher kommt nämlich nicht aus einem streng akademischen Umfeld, wie man angesichts seines Frühwerks glauben könnte. Yorgos Lanthimos zählte in den Neunzigern zu den gefragtesten Werbefilmern Griechenlands. Der Schöpfer von finster-desolaten Meisterwerken wie „Dogtooth“, „The Lobster“ oder „The Killing of a Sacred Deer“ hatte immer schon populistische Obsessionen und Tendenzen. In Interviews blödelt Lanthimos gerne entwaffnend herum, ein gut gelauntes Gegenstück zum hochseriösen Michael Haneke, mit dem er öfter verglichen wird.

Filmstill aus "Poor Things"

Searchlight Pictures

Abseits puristischer Arthouse-Zirkel

Auch wenn bei ihm zuvor schon ein rabenschwarzer Humor aufflackerte, so richtig lebt Yorgos Lanthimos seine Lust an der Satire erst in Hollywood aus. Das sarkastische Kostüm-Epos „The Favourite“ eroberte 2018 Kritik und Publikum gleichermaßen. Im Kern so bösartig wie alle Lanthimos-Arbeiten zuvor, überraschte der Film sozusagen mit einer Nougat-Glasur rund um den bitteren Historien-Kern. „The Favourite“ holte plötzlich auch eine Filmcrowd abseits der puristischen Arthouse-Zirkel ab.

Schon damals, neben der superen Olivia Colman, im Zentrum der brachialen Burleske: Emma Stone. Einst Comic-Kino-Shootingstar, dann elegant tänzelnde Oscar-Preisträgerin („La La Land“), jetzt plötzlich entfesselte Anarcho-Komödiantin. Eine dermaßen mutige Performance wie jetzt in „Poor Things“ hat trotzdem niemand erwartet, Emma Stone als vom Tode wiedererweckte Bella Baxter schreibt sich tabubrecherisch in die Filmgeschichte ein.

Filmstill aus "Poor Things"

Searchlight Pictures

Ist „Poor Things“ ein revolutionärer Film im Disney-Vertrieb (die engagierte Firma dahinter, Fox Searchlight, wurde längst vom Mauskonzern gekauft), ein Werk, in dem entfesseltes weibliches Begehren hymnisch gefeiert wird? Oder steht er doch nur wieder für den berüchtigten Male Gaze, der auch Emma Stone instrumentalisiert? Im FM4-Talk macht sich die deutsche Journalistin, Autorin und Sex-Bloggerin Catrin Altzschner über die Faszination des Films ihre Gedanken.

Christian Fuchs: Liebe Catrin, du warst ja schon mal in einem FM4 Filmpodcast über „Sex im Kino“ in unserem Wiener Studio zu Gast, es freut mich, dich nun digital zu erreichen. Was waren deine ersten Gedanken zu „Poor Things“, vielleicht noch während des Films? Und dann beim Verlassen des Saals?

Catrin Altzschner: Tatsächlich war ich ein bisschen enttäuscht und vielleicht ist das, was du als positiv hervorhebst, nämlich der Sprung vom „puristischen Arthouse“ zum Geschmack eines größeren Publikums, das, was ich nicht für so gelungen halte. Ich mach das mal an „Dogtooth“ fest, weil ich den Film außerordentlich gern mochte. Hier stimmte für mich alles überein: Die langatmigen Einstellungen, das Verlieren in Licht und Stimmungen, die Brutalität – emotional und physisch - als Kontrast.

Diese zwei Filme sind wirklich maximal konträr. Ich lernte ja Lanthimos erst mit „The Lobster“ lieben, wo er erstmals Hollywood-Akteure in einem verstörenden Szenario platziert hat. Und „Poor Things“ hat nun beinahe die Opulenz eines Tim Burton Films…

Der Trailer von „Poor Things“ hatte mir genau diese Opulenz versprochen und obwohl wahnsinnig viel in dem Film passiert, scheint er mir doch oft auf der Stelle zu treten. Die 2 Stunden 21 Minuten machen es nicht unbedingt leichter. Vielleicht bin ich zu abgezockt, aber auch die Schocker bleiben aus. Ein paar offen gelegte Gehirne und eine Bella, die in leblose Augen sticht, das macht nicht viel mit mir. So war es für mich eben nichts Halbes und nichts Ganzes. Es ist nicht Arthouse, aber es ist auch nicht Blockbuster. Es ist einfach alles ein bisschen harmlos. Selbst die Sexszenen, da muss ich eher schmunzeln, als zu denken: What the fuck!

Catrin Altzschner

Lena Heckel

Catrin Altzschner

Catrin Altzschner ist deutsche Hörfunkmoderatorin (WDR), Buchautorin („Give a fck. Über Sexarbeit und warum sie uns alle etwas angeht“) und Bloggerin. In ihrer Sendung „1Live Intimbereich“, die auch als Podcast verfügbar ist, berichtet sie über Sex und Beziehungen, erzählt von Intimität, Sexual- und Paartherapie und Feminismus, sehr persönlich gefärbt. Auch in anderen Podcasts („Das Glückskarussell“) setzt sich Altzschner mit menschlichen Extrem-Emotionen auseinander.

Ich muss sagen, ich fühlte mich wahnsinnig gut unterhalten, visuell berauscht, von klugen Referenzen umhüllt.

OK, jetzt schimpfe ich so, dabei gibt es natürlich auch wahnsinnig viele fantastische Bilder, liebevolle Details, einen guten Humor, allein das es diese Wolpertinger-Kreaturen gibt, muss mir gefallen, aber ich werde den Gedanken einfach nicht los, dass es im Grunde einfach nur die Geschichte von „Das 5. Elemente“ von Luc Besson ist, wenn auch freilich in einem anderen Setting und die Welt muss nicht gerettet werden, aber am Ende treffen wir auf ein Kindwesen, das weder gut noch schlecht ist, sondern neugierig, sinnliche und emotionale Erfahrungen macht, aber auch rasant viel und schnell über die Welt lernt und dadurch feststellt, dass der Mensch ein gar nicht so passables Tier ist. Das muss ich aber nicht über fast 2,5 Stunden erzählen. Es ist eine kurze Geschichte, eigentlich. Und „Das 5. Element“ hatte wirklich 90er Power at its best.

Aus dieser pittoresken Erzählung schält sich bald ein deutlicher Strang heraus, der von der Domestizierung der weiblichen Sexualität handelte. Und dem monströs-unschuldigen Aufbegehren gegen diesen Prozess. Hast du das auch als Grundthema gesehen?

Klar. Das Grundthema ist ja auch kaum zu übersehen. Es drängt sich mir ja an allen Ecken und Enden auf. Das ist mir zu viel. Ein bisschen ist es so, als wären diese Barbenheimer Memes in „Poor Things“ real geworden. Ein Film mit hohen feministischen Dogmen, gegossen in eine düstere Ästhetik.

Filmstill aus "Poor Things"

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Wie erging es dir mit Bella Baxter, was macht die Figur für dich aus?

Emma Stone spielt fantastisch und ihre Figur „Bella“ ist einfach nen Punk, womit ich meine, dass sie sich ihre eigenen Werte und Normen schafft und unabhängig von der sie umgebenden Welt ihren Bedürfnissen nachgeht und doch schon bald das große Ganze der Gesellschaft in Frage stellt. Das kann man nur mögen. Und dass sie ihre Sexualität abseits von gesellschaftlichen Erwartungen dadurch leben kann oder zumindest will, ist geradezu radikal.

Aber damit finde ich den Anschluss zur Frage davor: Bella geht in diesem Film nicht einfach ihren Weg und ich kann mich davon inspirieren lassen, sondern wirklich jede Szene wird benutzt, um mir Patriarchat zu erklären und das in einer erschlagenden Dichte: Recht am eigenen Körper, Sexualität, geforderte Tugendhaftigkeit, Zugang zu Bildung, Macht und Geld, Objektifizierung und und und. Das im letzten Plot Twist (ich glaube ich spoiler so nicht), dann auch noch mal eben das Thema Femizid und Genitalverstümmlung abgewirtschaftet wird, das war mir einfach zu viel. Da stand ich kurz davor zu schreien: Ich habe das jetzt verstanden!

Habe ich zwar überhaupt nicht so empfunden, aber finde ich interessant als Einwand…

Ich empfinde das alles – auch wenn mir ein feministischer Kampf sehr am Herzen liegt – als wahnsinnig dogmatisch und belehrend. Ich möchte aber in Kunst und Kultur, im Kino oder Museum nicht belehrt oder erzogen werden, ich möchte berührt werden oder schockiert werden. Vielleicht hätte ich mir gewünscht, dass Bella wirklich mehr ihr Leben leben darf und nicht für höhere Ziele und Werte einstehen muss. Das ist die ewige Frage nach: Und was ist die Moral von der Geschichte? Diese Frage ist dann aber doch für mich das Gegenteil von Punk. Deswegen war ich dann fast mit dem Ende versöhnt, wo andere sagen, dass es die Chance auf Umwälzungen verpasst. Endlich kommt die Figur der Bella, zumindest in ihrem kleinen, privaten, vielleicht sogar polyamoren Hinterhof-Hedonismus zur Ruhe. Das mochte ich.

Filmstill aus "Poor Things"

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Das besondere an Bella für mich ist aber nicht nur der emanzipatorische Gestus hinter ihrem Auftreten. Sie kennt keine Eifersucht, sieht Sex einfach als „furious jumping“, als moralisch wertfreien Akt der Lustgewinnung, abseits konventioneller heterosexueller Beziehungsmodelle, fordert ihr Recht auf Orgasmen ein.

Da kann ich natürlich nicht widersprechen und dass ich verhuschtes Gekicher an den entsprechenden Szenen im Kino gehört habe, gibt dem Film ja recht, dass es diese Bilder noch hundertfach brauchen wird. Hier kann ich mich übrigens der jetzt schon häufig gehörten Kritik nicht anschließen, dass Bella, anfangs Kind im Frauenkörper, am Ende nur eine männlich verfügbare Lolita sei. Das Thema frühkindliche Sexualität ist so beschämt in unserer Gesellschaft, dass ich es eigentlich elegant finde, es zu entlarven, indem wir es im Körper einer Erwachsenen zeigen und damit fast radikaler machen. Klar werden so die Zuschauenden wie auch die männlichen Protagonisten in Verlegenheit gebracht, aber das ist ja gut so.

Die Frage ist doch: Wie können wir Kindern einen unbeschwerten Umgang mit dem eigenen Körper und Sexualität ermöglichen? Die Szene, wo sich Bella am Tisch befriedigt und dafür gescholten und beschämt wird, finde ich symptomatisch. Das kindliche Sexualität anders ist als die von Erwachsenen und sie zu schützen sind, ein Verständnis von Intimität erwachsen muss und sie unabhängig vom Geschlecht zu schützen sind, steht dabei außer Frage.

Auch im FM4 Film Podcast wird über „Poor Things“ diskutiert: Pia Reiser, Christian Fuchs und Jan Hestmann plaudern über das vielfach ausgezeichnete Werk mit der Wiener Filmjournalistin, Buchautorin und Medienforscherin Nadja Sarwat.

Der Film spielt auch mit einer männlichen Grundpanik vor befreiter weiblicher Sexualität. Mir scheint, dass diese Panik - neben der Angst vor dem Tod und einem gewissen Grundbedürfnis an Irrationalität - auch fast alle Religionen speist.

Auch hier gehe ich mit. Zumal die meisten Religionen, zumindest die monotheistischen, schon immer die weibliche Sexualität zu domestizieren versuchten. Da passt der Schulterschluss also eh. Was die Angst vor dem Tod angeht, kann Sex ihn ja vielleicht wirklich überwinden. Sex kann Leben schenken und Teile von uns, indem unsere Gene weiterleben, unsterblich machen. Gemäß dieser Logik muss es natürlich im männlichen Interesse sein, dass man(n) sicherstellt, dass auch wirklich die eigenen weitergeben werden. In Zeiten von Verhütung und wo Sex längst nicht nur der Reproduktion dient, ist das natürlich Unfug.

Catrin Altzschner

Lena Heckel

Catrin Altzschner

Deswegen reagieren irgendwann alle Typen allergisch und gleichzeitig besessen auf Bella: Die fanatische, aber letztlich gutmütige, weil impotente Großvater-Gestalt namens Goodwin, gespielt von Willem Dafoe, wirkt noch am ehesten entspannt. Der Millennial-Jüngling (Ramy Youssef) versteckt sein inneres Brennen für Bella hinter kultivierter Fassade. Lichterloh entflammt dagegen der vermeintlich abgebrühte ältere Dandy, köstlich gespielt von Mark Ruffalo. Siehst du diese drei Männer auch als Generationenportraits?

Das ist lustig, weil es mir gar nicht in den Sinn gekommen ist, aber jetzt wo du es sagst… stimmt. Kann man so sehen. Neben der Kritik, dass ein männlicher Drehbuchautor nach dem Roman eines Mannes diesen Film gedreht hat, wird die Dichte der Männerfiguren ja häufig auch kritisiert. Ich fand das eher logisch. Für mich sind all diese Männer verschiedene Gesichter des Patriarchats. Es braucht sie, damit Bella sich an ihnen bzw. dem System reiben kann. Was ausbleibt ist, dass es ja auch Frauen gibt, die Misogynie internalisiert haben. Emma ist in Teilen nämlich auch eine Gefahr für Frauen, die sich gemäß der Logik des Systems eingerichtet haben.

Und jetzt komm ich noch mal zu den Männern hinter den Kulissen: Der Diskurs geht mir ein bisschen ab. Warum sollten Männer nicht über Feminismus, Frauen, Patriarchat schreiben, filmen dürfen? Ich erwarte ja auch nicht, dass der Regisseur Serienkiller ist, um einen Film über einen zu machen. Außerdem verhärtet es für mich nur dieses binäre System und am Ende ist es doch wünschenswert zu erkennen, dass das Patriarchat allen Geschlechtern schadet, frei zu sein. Natürlich braucht es da Männer, die mitziehen. Einen Film möchte ich daran bemessen, wie er gemacht ist - und nicht von wem.

Danke für dieses spannende Gespräch!

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