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Buchcover "Das Gras auf unserer Seite" von Stefanie de Velasco

Kiepenheuer & Witsch

Freundinnenschaft und Wechseljahre

Drei Freundinnen stehen im Mittelpunkt des neuen Romans „Das Gras auf unserer Seite“ der deutschen Autorin Stefanie de Velasco. Die drei leben in Berlin, sind Mitte Vierzig und stehen alle vor wichtigen Entscheidungen.

Von Jenny Blochberger

Wenn Grit zuviele Smarties isst, kriegt sie rote Flecken im Gesicht. Gerade eben ist Grits Gesicht mit roten Flecken vom stressbedingten Smartiesessen übersät. Sie ist nämlich im teuren Berlin auf Wohnungssuche und hat sich zusätzlich noch eingebildet, dass sie einen Kleingarten herrichten muss. Außerdem trauert sie um ihren verstorbenen Hund Herr Trott.

Kerstins Hund heißt Pan – spanisch für Brot. Ihre Mutter ist Spanierin, hat ihrer Tochter aber den deutschesten Namen gegeben, den man sich vorstellen kann – nämlich eben Kerstin (aka Kessie). Jetzt ist die Mutter schwer krank und muss ins Pflegeheim. Bei der Rückkehr in die Heimatstadt begegnet Kessie nicht nur ihrer Jugendliebe Nazim, sondern watet beim Ausräumen der elterlichen Wohnung auch knietief in zwiespältigen Erinnerungen.

Ihr Vater, dieser Lebemann, der immer die besten Witze riss. Sicher lag das auch am Rotwein, von dem er auch Kessie und Álvaro immer einen Spritzer ins Wasserglas goss. Jeden Wunsch erfüllte er ihr, schraubte Spielzeug und Möbel zusammen – nur den ersehnten Hund bekam sie nicht. Es hätte nicht mal ein großer sein müssen, nur einer, der nachts bei ihr im Bett schlief, einer der bellend dazwischenging, wenn der Vater die Mutter nach dem Abendessen an die Wand warf und sie mit dem Brotmesser in der Hand anschrie.

Gruppenchat mit Hunden

Die dritte Freundin Charly ist Schauspielerin, notorisch verpeilt und vielleicht schwanger. Sie hätte mal ein Star werden können, sabotiert sich aber immer selbst und lebt lieber so vor sich hin, ohne weitreichende Entscheidungen zu treffen. Sie hat drei Liebhaber und einen aggressiven Hund, der es besonders auf Bobtails abgesehen hat. Im Gruppenchat „Dogville“ tauschen sich die drei täglich aus:

Grit: @charly Hast du mal einen Schwangerschaftstest gemacht?

Charly: nein ich trau mich nicht

Grit: ist wohl auch quatsch… das geht doch gar nicht mehr in deinem Alter

Kessie: Meine Großmutter hat meinen Onkel mit 47 bekommen. Geht alles.

Charly: boah red nicht so BITTE

Grit: Mach halt… dann hast du Ruhe.

Charly: nein panik

Kessie: Du bist nicht schwanger

Charly: aber warum kotze ich dann so viel vielleicht ist es was ernstes

Kessie: Du kotzt, weil du unendlich viel FRISST.

Charly: ??

Buchcover "Das Gras auf unserer Seite" von Stefanie de Velasco

Kiepenheuer & Witsch

„Das Gras auf unserer Seite“ von Stefanie de Velasco (256 Seiten) ist im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen.

Freundinnenschaft im Wechsel der Jahre

Die Dynamik zwischen den drei Freundinnen wirkt sehr natürlich, man merkt, wie gut sie einander kennen und wie sehr sie einander mögen – und auch, wie sehr sie einander nerven können. Die Whatsapp-Nachrichten lesen sich wie echte Unterhaltungen und nicht wie geskriptet, die Dialoge zum größten Teil auch. „Das Gras auf unserer Seite“ ist nicht zuletzt durch den so entstehenden flockigen Tonfall gut unterhaltsam. Ein wichtiger Aspekt: Grit, Charly und Kessie stehen kurz vor den Wechseljahren. Das hat Autorin Stefanie de Velasco besonders interessiert. Sie sieht in dieser Zeit des Umbruchs eine Lebensphase, die mindestens so spannend ist wie das Erwachsenwerden, das aber in der Popkultur ungleich viel mehr Aufmerksamkeit bekommt. Im Interview auf der Leipziger Buchmesse erzählt de Velasco, wie sich die Idee des Romans entwickelt hat.

radio FM4: Es gibt gerade eine Welle an Erzählungen über Frauenfreundschaften, die als die stärkeren Beziehungen dargestellt werden als Paarbeziehungen. Wie siehst du das?

Stefanie de Velasco: Ich habe das natürlich auch mit Neugierde verfolgt, dass das Thema Freundinnenschaft, ähnlich wie das Thema Mutterschaft, inzwischen auch eine Perspektive einnimmt in der Literatur - und finde das natürlich super. Am Anfang war mir das gar nicht so klar. Ich wollte eigentlich eine klassische Liebesgeschichte erzählen, also eine ganz heteronormative Beziehungsgeschichte. Und dann war es aber so, dass sich das so herausgeschrieben hat. Oft entscheidet man sich ja dann gar nicht so dolle selbst dafür, sondern der Text geht dann so seinen eigenen Weg. Ich bin da aber gar nicht so dolle verwundert darüber, weil für mich Freundinnenschaften auch ganz, ganz wichtig sind. Und auch wenn ich in einer sehr langjährigen heterosexuellen Partnerschaft bin, habe ich doch viele Freundinnen, mit denen ich noch wesentlich länger „zusammen“ bin.

Ist diese tiefe, lebenswichtige Freundinnenbeziehung aktuell spannender als die ewigen cis-heteronormativen Liebesgeschichten?

Ich glaube nicht, dass sie spannender sind - nur, dass sie bisher noch nicht so oft erzählt worden sind. Das sind Perspektiven, die in der Literatur fehlen. In der Nachkriegsliteratur ist es ja sogar so, dass solche Konstellationen früher gar nicht als Literatur angesehen wurden, dass sie eigentlich abgewertet und in diese Mädchen-Ecke gestellt wurden. Und deswegen begrüße ich das sehr, weil ich das für ein total erwachsenes Thema halte.

Diese drei Frauen stellen sich mit Mitte 40 Lebensfragen, die man sehr ähnlich auch in einem Coming-of-Age-Roman finden könnte. Lösen sich die Grenzen zwischen den Generationen auf oder ist das die ganz normale Rekalibrierung des Lebens im mittleren Alter, also das, was man früher eher Männern zugeschrieben und Midlife Crisis genannt hat?

Also ich habe dafür ein eigenes Genre erfunden, und zwar nenne ich das Becoming-Age-Literatur. Das ist die Literatur über die Menopause und die Wechseljahre der Frauen, in der noch mal ganz viel hormonell im Körper einer Frau passiert. Man weiß ja inzwischen auch, dass die Wechseljahre genauso lange dauern wie die Pubertät und dass sie im Grunde eine rückwärtsgewandte Pubertät sind. Und ich bin ganz doll dafür, dass wir die Becoming-Age-Literatur äquivalent zur Coming-of-Age-Literatur als popkulturellen Referenzrahmen etablieren müssten und die Wechseljahre dadurch auch so einen ähnlichen Charakter bekommen wie die Adoleszenz, nämlich als eine Aufbruchszeit, als eine Zeit des Abenteuers, in der noch mal ganz viel passiert. Das ist etwas, was so im Mittelpunkt dieses Romans steht.

Autorinnenfoto Stefanie de Velasco

Joachim Gern

Stefanie de Velasco, geboren 1978 in Oberhausen, wuchs als Kind spanischer Einwanderer im Rheinland auf. Sie studierte Europäische Ethnologie in Bonn, Berlin und Warschau. 2013 erschien ihr Roman „Tigermilch“, der in zahlreiche Sprachen übersetzt und für das Kino verfilmt wurde. 2019 folgte „Kein Teil der Welt“, der von einer Kindheit und Jugend bei den Zeugen Jehovas erzählt und für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2020 nominiert wurde. Sie lebt als freie Autorin mit ihrem Hund in Berlin.

Und vielleicht müsste man da dann auch dazu sagen, ab wann das passiert, nämlich nicht erst ab Mitte 50 oder so.

Ja, genau. Also zehn Jahre kann das dauern. Und es ist auch nicht so, dass man plötzlich einfach seine Tage nicht mehr bekommt und dann ist man Großmutter oder so, sondern das ist etwas, was sich wirklich über Jahre erstreckt und in dieser Zeit passiert unheimlich viel. Wo sind die Texte darüber, wo findet sich das in der Literatur? Ich lese das nicht und ich wollte so was lesen. Also habe ich‘s selber geschrieben.

Alles muss man selber machen. Das sagst du jetzt mit diesem Nachdruck.

Ja, weil es natürlich wahnsinnig ärgerlich ist, wenn ich mir so meine männlichen Kollegen anschaue, in was für einer reichen, referentiellen Welt die sich bewegen. Wie die Autoren heranziehen können. Ich habe irgendwann mal ein Interview von Daniel Kehlmann im Spiegel gelesen. Wie der wie in so einem Fluss die Autoren herbeizitiert und sich dadurch dort selbst auch verorten konnte. Das habe ich als Frau, als Autorin überhaupt nicht. Ich muss mir das alles so ganz mühevoll zusammensuchen. Und dann sind es ganz oft auch Texte, die gar nicht als kanonisch gelten. Es gibt zum Beispiel einen Text von Thomas Mann, seine letzte Erzählung „Die Betrogene“, die über eine Menopause als Frau erzählt. Das ist aber einer der ganz wenigen Texte, wo es um die Wechseljahre der Frau geht.

Deine drei Protagonistinnen haben vor allem in der Art, wie sie Messages schreiben, sehr unterschiedliche Stile. Machst du für jede Figur eine Art Charaktersheet oder wie gehst du die Figurenzeichnung an?

Das mit den Chats, das war wirklich nicht einfach. Ich habe diese Chats fast schon Method-Acting-mäßig geschrieben und auch selber so eine fiktive WhatsApp-Gruppe Dogville gegründet und so versucht, die einzelnen Stimmen im Text auszuarbeiten. Da habe ich echt lange dran gearbeitet und war auch lange verzweifelt, ob das noch gelingt. Das ist dann natürlich schön zu hören, dass es offenbar doch gelungen ist.

Hat sich dein privater Stil jetzt auch geändert?

Ich habe selber gar kein Smartphone. Also ich habe eins, aber ich darf das Handy einmal am Tag um 16:00 Uhr rausholen, dann muss ich alles erledigen. Und dann packe ich das wieder zurück in den Keller. Ich muss wirklich in meinen Keller runtergehen und wieder hochgehen und das Handy dann wieder runterbringen. Ich finde, das ist ein schreckliches Gerät, ich versuche es aus meinem Leben rauszuhalten wie Zigaretten oder so was.

Wow. Das heißt, du holst wirklich nur jeden Tag um vier das Handy – und wann geht es zurück in den Keller?

Ich habe so eine Liste, was ich auf dem Handy erledigen muss, und dann bringe ich es weg. Das mache ich am Ende meines Arbeitstages. Also ich bin sonst eine von denen, die acht Stunden Bildschirmzeit täglich haben, das geht einfach gar nicht. Deswegen kommt es dann wieder in den Keller.

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