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Frau mit Pelzkapuze schaut in die Luft

Rodnye/Crossing Europe

Aufwühlendes Kino

Es ist gar nicht leicht, beim aktuellen politischen Geschehen in Europa durchzublicken. Tolle Filme wie „Close Relations“ oder „Chez Nous“ können vieles klären. Schon der erste Filmabend am Crossing Europe Festival ist aufwühlend.

Von Maria Motter

Crossing Europe 2017

25. bis 30. April

Alle Infos auch auf crossingeurope.at

Linz, Crossing Europe und schon der erste Abend ist aufwühlend. Die Festivalintendantin Christine Dollhofer hat die Kinokarte für „Close Relations“ eingerissen, weil der Saaleinlass kurz anderes zu tun hatte. „Mache ich das inzwischen!“, begrüßt Dollhofer freundlich. Zum 14. Mal leitet sie das Crossing Europe Filmfestival und zeigt Kino, das sein Publikum bereichert. Auch wenn man nach einem Film wie „Close Relations“ erstmal im Kinosessel kauert.

"Close Relations“

Die Augen des Regisseurs Vitaly Mansky sprechen Bände. Auch er schaut traurig. Für seinen großartigen Dokumentarfilm hat er binnen eines Jahres alle seine Verwandten besucht. Von Mai 2014 bis 2015 war er in Moskau, Kiew, Lviv, Donezk, Sewastopol. „Du bist in der Ukraine schlafen gegangen und in Russland aufgewacht“, sagt er zu einer Verwandten in Sewastopol in einer der wenigen Szenen, in denen er sich im Film selbst zu Wort meldet. Russland hat 2014 die Krim und die Stadt Sewastopol annektiert. In der Ukraine ist Krieg. In Russland darf Vitaly Mansky keine Filme mehr machen, seit er „Close Relations“ gedreht hat.

Soldaten vor einer Straßenbahn

Rodnye/Crossing Europe

Dabei wolle er niemandem eine Ansicht aufdrängen, sagt der Mann mit dem Mehrere-Tage-Bart, der gerade aus Südamerika zurückgekehrt ist. Auf dreißig Festivals weltweit ist „Close Relations“ bislang im Programm gelaufen. Ob Vitaly Mansky nach jeder Vorführung mit Publikumsgespräch in entsetzte Gesichter schauen muss? Was uns die Verwandtenbesuche über den Krieg zwischen Russland und der Ukraine - oder soll man sagten Teile der Ukraine? - beibringen, ist vermutlich zu viel, wenn man sich zuvor nicht eingelesen hat. Denn die Doku spiegelt das Tempo wider, mit dem das Jahr 2014 die Leben der Menschen in der Ukraine auf den Kopf gestellt hat. Man wünscht sich mehr Zeit, länger in diesen Straßen zu verweilen, die wie Filmkulissen anmuten, und sich in diesen Wohnzimmern noch genau umzusehen, in denen oft ein Fernseher mit Wahlwerbung und Nachrichten-Propaganda läuft. Aber man will ja auch die Untertitel lesen. Und so muss man schnell schauen und noch schneller lesen.

Vitaly Mansky, der Regisseur von "Rodnye"

Rodnye/Crossing Europe

Vitaly Mansky

Klar wird: Die Inszenierung von Politik umgibt die Menschen und ist allgegenwärtig, ob in Form der Riesenportraitstatuen aus der Sowjetunion, als Gebäudeblöcke umspannenden Wahlbanner oder in öffentlichen Auftritten von Politikern. Ein unglaubliches Highlight an Schauplatz ist die real existierende Tour für TouristInnen zur Villa von Wiktor Janukowitsch in Kiew. Dort zwitschert tatsächlich ein Kanarienvogel allein im goldenen Käfig. Doch zu behaupten, der Machtkampf werde auf dem Rücken der einfachen Leute ausgetragen, wäre vermessen. Das macht Vitaly Mansky sehr deutlich. Jede und jeder Einzelne entscheidet, ob sie oder er in die Kriegspropaganda einschlägt und hetzt. Mehrmals macht der Film deutlich, wie viele Länder die Geschichte der Ukraine mit geprägt haben. Nicht weit zurück waren auch die Habsburger und Österreich-Ungarn ein Einfluss.

In den besten Passagen ist der Film ein Kammerspiel: Wenn die Frauen beim Kochen deutlich werden, was ihre politischen Ansichten betrifft, und die Großmutter im Wohnzimmer die Kulturlosigkeit des Enkels beklagt, der Tag und Nacht vor dem Computer hängt. Jetzt, im April 2017, ist der junge Mann nach dem Pflichtdienst in der ukrainischen Armee freiwillig an der Front, obwohl er Russisch spricht. Das sagt Vitaly Mansky nach dem Film. Ein verstörender Moment: Der 21-Jährige kämpft gegen Leute, denen er sich doch auch zugehörig fühlt.

„Close Relations“ zeigt sehr subtil, wie grauslich nationalistisches Denken selbst enge persönliche Beziehungen zerstört.

Zeitgenössisches Kino und wie!

Mit den Strategien rechtspopulistischer Parteien hat sich der belgische Regisseur Lucas Belvaux intensiv befasst. Mitten in der Wahl um die französische Präsidentschaft hat sein brisanter Spielfilm „Chez nous“/„Unter uns“ Österreich-Premiere am Crossing Europe. Für die fiktive Partei in seinem Film gibt es ein klares Vorbild: Den Front National. Auch die politische Hauptfigur im Film erinnert frappant an die Französin Marine Le Pen, die nach dem ersten Wahlgang vergangenen Sonntag als Präsidentschaftskandidatin in die Stichwahl gegen den parteilosen Emmanuel Macron geht. Laut einem Gerichtsurteil darf Marine Le Pen als Faschistin bezeichnet werden.

Eine Familie im Stadion

Chez Nous/Crossing Europe

Lucas Belvaux hat sich trotz seiner Recherchen für eine fiktive Geschichte entschieden. „Chez nous“ erzählt, wie eine Sympathieträgerin von einer Partei als Spitzenkandidatin für ein Bürgermeisteramt angeworben wird, die sich ihr als weder links noch rechts verkaufen will. „Der Front National sucht genau solche Menschen, die keinen politischen Background haben und sich trotzdem engagieren wollen“, sagt Belvaux im Interview.

Im Film exerziert Lucas Belvaux konsequent vor, wie eine jüngere Generation nicht mehr an das System der Großparteien glaubt, dem ihre Eltern vertrauten. Und die in ihrem Wunsch nach Veränderung übersieht, wie sie im Fall der Hauptperson einer rechtsextremen Partei anhängt, ohne sich dessen bewusst zu sein. „Zwei Drittel der Wählenden des Front National sind gutgläubige Menschen, die weder rassistisch noch antisemitisch sind oder gewalttätig auffallen und die sich wenig Gedanken über das Programm an sich machen“, sagt Belvaux.

Regisseur Lucas Belvaux

Chez Nous/Crossing Europe

Lucas Belvaux

The future is female?

Dass mit Marine Le Pen eine Frau an der Spitze des Front National steht, ist kein Zufall, sagt Belvaux: „Es gehört zur Marketingstrategie des Front National, verstärkt Frauen zu rekrutieren, um das Ansehen zu verbessern. Die Frau wird in unseren Kulturen dem Fürsorglichen und dem Guten zugerechnet. Margaret Thatcher ist ein Bespiel, dass eine Frau an der Macht genauso brutal sein kann, wie ein Mann. Es gibt zum Beispiel FeministInnen, die sich an dem antiislamischen Kampf rechter Parteien in Europa beteiligen.“

„Chez nous“ kommt im Herbst regulär in die österreichischen Kinos. Christine Dollhofer schlägt gestern bei der Eröffnung des Crossing Europe vor, man könne ihn auf Österreichisch übersetzt vielleicht „Daham“ nennen.

160 Filme

160 Filme aus 43 Ländern sind bis inklusive Sonntag in Linz zu sehen. Wie geht man an dieses Angebot am besten heran? Das fragt sich nicht nur der Kurator der Programmschiene „Cinema Next Europe“, Dominik Tschütscher, schon am ersten Tag. Eine Antwort wäre: Nach dem Zufallsprinzip gehen!

Weil Dominik Tschütscher kein aktuelles Porträtfoto am Rechner hatte, hat er jetzt ein Katzenfoto auf seinem Akkreditierungsausweis.

Dominik Tschütscher hat auf seinem Festivalausweis ein Katzenfoto

Maria Motter

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