Verliert New York seine Seele?
Zum Titelbild: Graffitis auf Zügen sieht man in New York seit den 80er Jahren nicht mehr. Dieses Detail von der TATS Cru ist von einer Wand, die im Rahmen des Projekts „Coney Art Walls“ in Coney Island legal bemalt wurde.
Brooklyn, Berlin-Kreuzberg und Wien-Ottakring haben eines gemeinsam: sie gelten als Paradebeispiele für so genannte Grätzl-Aufwertung. Stichwort Gentrifizierung. Ehemals günstige Wohnbezirke für einkommensschwache Menschen werden, nachdem sie von Künstlern und kleinen Kreativ-Büros „entdeckt“ und hip gemacht wurden, einer Schönheitskur unterzogen. Preise werden erhöht, Dachböden ausgebaut, alte Häuser niedergerissen. An deren Stelle entstehen dann von Architekturbüros geplante, schicke (und für viele unleistbare) „Wohnträume“ mit klingenden Namen und Konzepten, die eine neue, kapitalstarke Zielgruppe ins Viertel locken. Gut situierte junge Familien oder Vermögende, die zwar im coolen Viertel wohnen wollen, die sich dann aber über Grillgeruch vom bosnischen Restaurant, über Graffitis und Lärm von den Terrassen beschweren und den Locals das Leben zur Hölle machen.
New York gilt als die Mutterstadt dieser Entwicklung. Nachdem die US-Metropole in den 70er Jahren bankrott war, haben neo-liberale Politiker wie die Bürgermeister Ed Koch, Rudolph Giuliani oder der Milliardär Michael Bloomberg konsequent ein perfides Konzept umgesetzt, dessen Auswirkungen die Seele der Stadt gefährden. Aus dem einst liberalen Melting Pot für Menschen aus aller Welt wird immer mehr ein Disneyland für reiche Menschen. Arme sollen bitte draußen bleiben.
alexander hertel
Heute dominieren in NYC die Interessen von Investoren, Immobilienspekulanten, Großkonzernen und Touristen. Bürgerinnen und Bürger der Stadt haben nur dann eine Chance, wenn sie sehr viel Geld verdienen.
Vom Blog zum Buch
Griffin Hansbury ist Anfang der 90er Jahre von der amerikanischen Provinz nach New York gezogen, um dort den bürgerlichen Kleingeist hinter sich zu lassen. Von legendären Bars & Clubs in der Lower East Side, queeren Hotspots im ehemaligen „Meat Packing District“ und den Künstler-WGs in Williamsburg hat er gerade noch die letzten Atemzüge miterlebt. Fast täglich wurde er Zeuge einer scheinbar unaufhaltsamen Veränderung der Stadt. Immer mehr Familienbetriebe werden durch überproportional ansteigende Mieten gezwungen, ihre oft über Generationen geführten Restaurants oder Clubs zu schließen. An ihre Stelle kommen Starbucks & Co.
alexander hertel
Unter dem Pseudonym Jeremiah Moss hat Griffin begonnen, seine Beobachtungen und seinen Frust im viel beachteten Blog Vanishing New York zu dokumentieren.
Vor kurzem wurde sein Buch mit dem Zusatz „How a great city lost its soul“ beim Verlag Dey St. veröffentlicht, in dem er akribisch beschreibt, wie sich der „Big Apple“ in eine langweilige, sterile, von allen Risiken befreite Stadt verwandelt.
DEY ST./jeremiah moss
Ich habe es während einer New York-Reise vor wenigen Monaten zufällig in einer kleinen Independent-Buchhandlung in Brooklyn gefunden (Greenlight Bookstore) und kann es absolut empfehlen, selbst wenn man keinen persönlichen Bezug zu New York hat. Jeremiah Moss beschreibt darin detailliert, wie sich Stadtteile wie Manhatten, Brooklyn, Harlem oder mittlerweile auch die Bronx rasant verändern. Welche Mechanismen und politische Manöver dahinterstecken und was es mit den Menschen macht, die seit Jahrzehnten dort leben.
Social engineering
Ein Begriff, der in „Vanishing New York“ immer wieder auftaucht und der mir Gänsehaut über den Rücken gejagt hat ist social engineering. Mir war nicht bewusst, dass noch vor dem Zweiten Weltkrieg in Vierteln wie Brooklyn oder Harlem Einwanderer aus Italien, Irland, Holland und Latein-Amerika mit afro-amerikanischen Familien, die aus den Südstaaten nach New York kamen, in friedlicher Nachbarschaft lebten. Viel zu „sozial-demokratisch“ und liberal für damalige Politiker, die so eine kulturelle Vermischung nicht wollten.
Durch bewusste Strategien wie billige Kredite für weiße Familien, die z,B. Afro-Amerikanern verwehrt wurden, lockte man diese in die Suburbs mit Reihenhäusern und kleinen Gärten. Die, die sich das nicht leisten konnten, mussten zurückbleiben in Vierteln wie der Bronx. Häuser wurden von Seiten der Stadt nicht mehr saniert, die Straßen nicht gereinigt, die Menschen sich selbst überlassen. Ohne Chance auf Kredite wurde es für ambitionierte Kleinunternehmer fast unmöglich, sich selbständig zu machen und sich etwas aufzubauen.
Geschichten wie diese prägen „Vanishing New York“. Gespickt mit Fallbeispielen aus Chelsea, Coney Island, Harlem oder Williamsburg.
alexander hertel
Fauxstalgia
Jeremiah Moss beschreibt perfide Techniken von Investoren, die zuerst durch exorbitante Mieterhöhungen traditionelle Clubs und Bars wie „CBGB“ in die Knie zwingen. Danach werden diese oft legendären Lokale, in denen Prominente wie Andy Warhol ihr Bier getrunken oder etwas an die Klowand gezeichnet haben, filletiert und nach verwertbaren Artefakten durchsucht.
Die alten Räumlichkeiten werden dann übernommen von Luxus-Restaurants oder sündteuren After-Work-Bars, die sich mit den Souvenirs des Vorgänger-Lokals schmücken und so Authentizität vorgaukeln wollen. Fauxstalgia nennt man das.
alexander hertel
We have a problem
Städte verändern sich immer, vor allem so große und lebendige wie New York. Darum geht es Jeremiah Moss nicht. Es geht ihm um ein Bewusstsein, dass hier Kulturgut und über viele Jahre gewachsene Geschichte für immer verloren geht.
Gnadenlos werden in New York Häuserblocks niedergerissen, Investoren mit Steuergeschenken dazu animiert, noch größere Projekte umzusetzen und funktioniernde Communitys zerstört.
alexander hertel
Ich habe während meines letzten Trips im Oktober 2017 zwei Wochen in Crown Heights gewohnt. Einer Gegend, die traditionell Heimat für viele afro-amerikanische Familien und Menschen mit karibischen Wurzeln ist. Einer der berühmtesten Plattenläden der Gegend musste vor kurzem schließen. Heute ist dort eine Bank.
Der lokale Gemüseladen wurde geschlossen und von einem schicken „Organic Food Market“, der wie ein Alien in der Straße gelandet ist, ersetzt. Kokoswasser kostet jetzt 7$ und Kaffee 5$ pro Becher. Das Gemüse kostet doppelt so viel wie vorher. In der Schlange vor der Kassa stehen in erster Linie weiße Menschen mit teuren Handys in der Hand. Ach ja, die Mieten in der Gegend haben sich in den letzten Jahren verdreifacht.
In einem Interview sagt Jeremiah Moss, dass wir derartige Veränderungen nicht einfach hinnehmen dürfen. Wir brauchen zuerst ein Bewusstsein für die Prozesse dahinter und dafür, dass das keine natürliche Entwicklung ist, die man nicht anhalten kann. Früher gab es in New York so genannte „rent control“, die exorbitante Mietpreiserhöhungen unterbunden hat. Warum soll es das in Zukunft nicht wieder geben?
Publiziert am 18.12.2017