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Buch

„Spur und Abweg“: Kurt Tallert alias Retrogott über den Schatten der Shoah

In seinem ersten Buch „Spur und Abweg“ taucht der deutsche Rapper Retrogott alias Kurt Tallert tief ein in das Leben seines Vaters. Von den Nazis verfolgt und eingesperrt, hat er das KZ überlebt und war später als Bundestagsabgeordneter tätig. Eine deutsch-jüdische Familiengeschichte über Identität, Vergangenheitsbewältigung und Gegenwart.

Von Alex „DJ Phekt“ Hertel

Wer die Musik des Rappers Retrogott in den letzten Jahren verfolgt hat, kennt ihn als eloquenten, scharfgeistigen und vor allem kritischen Beobachter einer Welt, die gespickt von Absurditäten, Abgründen und Wiedersprüchen ist. Hypermaskulinität, Rassismus, fragwürdige Szene-immanente Hierarchien innerhalb der Hip Hop-Community, durchschaubare Mechanismen der Popindustrie in einer von wirtschaftlicher Verwertung getriebenen Welt u.v.m. Retrogott bringt das in seinen Texten regelmäßig so auf den Punkt, dass einem das Lachen im Hals stecken bleibt.

Jetzt hat er unter seinem bürgerlichen Namen Kurt Tallert sein erstes Buch „Spur und Abweg“ veröffentlicht, das die eigene Familiengeschichte ins Zentrum rückt. Hauptfigur ist sein Vater Harry, der als so genannter „Halbjude“ während des zweiten Weltkriegs so wie einige andere Familienmitglieder ins KZ deportiert wurde.

„Seit mir bekannt ist, dass Verwandte meines Vaters aschkenasische Juden waren, die man irgendwo in der Nähe von Riga und in Auschwitz-Birkenau ermordete, dass andere Verwandte in die USA, die Schweiz und nach Brasilien geflohen sind, während mein Vater und dessen Vater sich in den Kellern der Gestapo und schließlich in den Deportationszügen der Deutschen Reichsbahn wiederfanden, seit ich von alldem weiß, versuche ich, dem Gefühl auf den Grund zu gehen, das dieses Wissen auslöst. Als Kind und Jugendlicher war ich oft wütend und entwickelte eine zynische Perspektive auf das Leben, und das könnte etwas mit dieser ernüchternden Familiengeschichte zu tun gehabt haben.“ (Kurt Tallert in „Spur und Abweg“)

Der lange Schatten

Als Kurt zur Welt kam, war sein Vater schon 58 Jahre alt. Nachdem dieser das KZ knapp überlebt hatte, wurde er Journalist und später Mitglied des Bundestags. Der Schatten des Erlebten sollte ihn aber zeit seines Lebens begleiten und hat auch die Familie geprägt. Im Alter von 12 Jahren hat Kurt seinen Vater sehr früh verloren. Und sich als Heranwachsender viele Fragen gestellt. Für sein Buch „Spur und Abweg“ hat er sich auf Spurensuche begeben und ist tief eingetaucht in das Leben seiner deutsch-jüdischen Familiengeschichte.

Buchcover "Spur und Abweg" blauer Hintergrund mit zwei kleinen Fotos darauf

Dumont

„Spur und Abweg“ von Kurt Tallert ist bei Dumont erschienen.

„In den Spuren und Abwegen kann ich nur vage betrachten was von der Vernichtung blieb, und das ist eben einerseits ein ganzes Menschenleben und andererseits nicht viel. Ich kann nicht erzählen, wie es genommen wurde, denn es wird noch immer genommen, es verschwindet noch immer auf schmerzhafte Weise. Meine Gegenwart besteht zu großen Teilen aus meiner Unfähigkeit, den Blick von der Vergangenheit abzuwenden so ähnlich wie bei Walter Benjamins Engel der Geschichte. Verzeihen hat etwas von Gottspielen. Ich habe eigentlich gar nicht das Recht dazu.“ (Kurt Tallert in „Spur und Abweg“)

Kurt reist auf seiner Suche zurück in die eigene Geschichte, findet in der frühen elterlichen Wohnung seiner Kindheit alte Briefe des Vaters, die im Buch abgedruckt sind. Gedanken eines Menschen, der die Dunkelheit gesehen hat. Der erlebt hat, wie schnell eine Gesellschaft und Systeme kippen können und dessen eigene familiäre Wurzeln genügten, um ihn zu verfolgen und zu deportieren.

„Die sich damals noch spirituell gebende Paranoia vor Verunreinigung (Anm. des Volkes) überlebte die Reformation und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. In den Rassentheorien des 19. Jahrhunderts fand sie ihren pseudowissenschaftlichen Ausdruck und wurde schließlich im nazistischen Vernichtungswillen in die grausamste Praxis umgesetzt. In den Schaumschlägereien heutiger Volksneurotiker nimmt die Angst vor der Überfremdung die nicht ganz subtile Form des leitkulturellen Waschzwangs an. Wie die Geschichte uns lehrt, bleibt es meistens nicht beim Händewaschen.“ (Kurt Tallert in „Spur und Abweg“)

Vergangenheit und Gegenwart

Mit Regionalzügen reist Kurt Tallert durch Deutschland, besucht Konzentrationslager wie das in Buchenwald (das ihm schon seine Mutter als Kind gezeigt hat) und fährt in das ehemalige jüdische Ghetto im heute tschechischen Theresienstadt. Orte, die direkt mit seiner Familiengeschichte verknüpft sind.

„Ich lernte an diesem Tag den Nationalsozialismus als das Gegebene kennen, dessen Kehrseite das Genommene war. Vergangenheit und Gegenwart vermischten sich vor dieser als Rechteck empfundenen Landschaft. Die Leute, die Asylantenheime anzündeten und die meine Eltern Neonazis nannten, die untätigen Zuschauer, die untätige Polizei, all das fügte sich in das große Bild ein, das ich hier zum ersten Mal betrachtete. Ich erfuhr an diesem Ort in ungeordneter Reihenfolge Dinge über meinen Vater, meine Groß- und Urgroßeltern, auf die sich besonders die verstörenden Aspekte der Gegenwart reimten.“ (Kurt Tallert in „Spur und Abweg“)

Am Ende seines Buchs schreibt Kurt einen berührenden Brief an seine im KZ ermordete Urgroßmutter Berta, in dem er der Frage nachgeht, was er eigentlich will und sucht.

„Was ich von Dir will, ist recht bescheiden und doch nicht ohne Schwierigkeit. Es geht nur mit Deiner Hilfe. Ich will nämlich meiner Urgroßmutter ein Urenkel sein, damit sie eine Urgroßmutter ist und nicht nur namenloses Laub oder gar Asche.“ (Kurt Tallert in „Spur und Abweg“)

Ein Stück Gegenwartsliteratur, in dem die Scherben eines Lebens zu einem Spiegel der Gesellschaft zusammengelegt werden. So steht es auf der Rückseite des Buchumschlags. Und besser kann man „Spur und Abweg“ nicht auf den Punkt bringen. Ein absolut lesenswertes Debüt.

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