Die spannende Geschichte von Graffiti in Wien
Von Phekt
Wer mit offenen Augen durch die Städte und Dörfer dieser Welt spaziert, stößt heutzutage unweigerlich auf bunte Spuren von Menschen im öffentlichen Raum. Manche davon sind legal entstanden, die meisten in heimlichen Nacht-und-Nebel-Aktionen: politische Slogans, Liebeserklärungen, mysteriöse Tags unbekannter Urheber, aufwändig gestaltete und großflächige Schriftzüge oder figurative Werke. Vor allem in urbanen Räumen sind Graffitis Teil des Alltags geworden. Gemalt, geliebt, gehasst. In Wien hat alles Anfang der 80er Jahre begonnen.
Farbe in der grauen Stadt
Stefan Wogrin, Kunsthistoriker und Betreiber des umfangreichen, österreichischen Online-Graffiti-Archivs Spraycity hat gemeinsam mit Maike Hettinger mehr als acht Jahre lang geforscht, um die Ursprünge von Graffiti in der österreichischen Bundeshauptstadt zu dokumentieren. Magazine, Bibliotheken und Online-Archive von Funk und Fernsehen wurden nach Informationen durchstöbert, private Fotosammlungen durchwühlt. Dank Mundpropaganda haben sie unzählige, alte Aufnahmen und Tipps von Szene-Insidern bekommen.
Stefan Wogrin
Mit Kameras ausgerüstet sind sie in die Peripherie der Stadt spaziert, unter Brücken geklettert und entlang der Bahnstrecken in abgelegene Winkel des urbanen Raums gewandert, um größtenteils verblasste und verwitterte Spuren der Anfangsphase von Graffiti in Wien zu finden. Gesprühte Relikte aus den frühen 80er Jahren und darüber hinaus.
Die Idee, Spuren der eigenen Existenz im öffentlichen Raum zu hinterlassen, ist älter. So gibt es zum Beispiel in Bruckneudorf bei Wien ein römisches „Sgraffito“ aus dem 4. Jahrhundert, das noch erhalten und im Landesmuseum Burgenland in Eisenstadt zu sehen ist, und geritzte Inschriften von 1611 in einem der Türme des Stephansdoms in Wien. Bekannt ist Josef Kyselak, der bereits 1825 im Kaiserreich unterwegs war und auf Ruinen, in Höhlen und auf Mauern seinen Namen eingraviert und bis heute verewigt hat. Diese historischen Aspekte werden ausführlich in einem eigenen Kapitel im „Graffiti Wien“-Buch behandelt.
Style-Writing & Hip Hop
Spricht man heute von Graffiti, wird meist das „Style-Writing“ gemeint. Also das Schreiben der Namen von geheimen Alter-Egos in möglichst bunter, spielerischer Weise an exponierten Stellen im öffentlichen Raum. Entstanden im Großraum New York Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre, ungefähr gleichzeitig mit der Anfangsphase jener urbanen Subkultur, die später als Hip Hop bezeichnet popkulturell die ganze Welt beeinflussen sollte.
Levin Statzer
All das hat Spuren auch in Wien hinterlassen. Dank Filmen wie „Wild Style“, die Anfang der 80er Jahre im Kino und TV gezeigt wurden, sind Teenager hierzulande erstmals mit „Breaking“ (Breakdance), scratchenden DJs, Rappern und bunt bemalten U-Bahn-Waggons in Berührung gekommen.
Stefan Wogrin erzählt von einem regelrechten Breaking-Hype in der Wiener Großfeldsiedlung Anfang der 80er Jahre. Für das Buch konnte er mit Maike Hettinger dort sogar einen original gesprayten „Breakdance“-Schriftzug aus dieser Zeit aufspüren. Fast ein Wunder, denn üblicherweise verwittern Graffitis im Laufe der Zeit, werden übermalt, mit Hochdruckstrahlern entfernt, von Pflanzen überwuchert oder verschwinden wegen Neubauten.
New York in Wien
Einige der beeindruckendsten Fotos im „Graffiti Wien“-Buch dokumentieren einen Besuch von vier New Yorker Graffiti-Pionieren Anfang der 80er Jahre. Eine Wiener Galeristin hat damals in New York besprühte U-Bahn-Waggons gesehen, Kontakte geknüpft und in Folge die berühmten Künstler PHASE 2, RAMMELZEE, DELTA 2 und ERO für eine Ausstellung eingeflogen.
Conny de Beauclair | www.conny.at
Im Rahmen dieses Besuchs wurde auch eine Wiener Straßenbahn legal im New Yorker Style bemalt, die dann wochenlang durch die Stadt und den Ring entlang gefahren ist.
Fun Fact: Der österreichische Rapper und Künstler SKERO war damals als Jugendlicher für einen Schulausflug in Wien und hat genau diese Straßenbahn gesehen. Ein für ihn prägender Moment, der ihn dazu inspiriert hat, Graffiti-Künstler zu werden. Viele seiner Werke tauchen in dem Buch auf, er ist ein wichtiger Protagonist der Wiener Szene.
WGU Wiener Graffiti Union
Die New Yorker Gäste haben damals auch die legendäre Wiener Disco U4 im Graffiti-Style bemalt, davon gibt es Fotos, die man bisher kaum zu sehen bekommen hat. Und sie waren vielleicht sogar die ersten Künstler, die mit Spraydose am Wiener Donaukanal gemalt haben, wo sich heute die größte Freiluft-Graffiti-Fläche des Landes befindet, die längst Teil des Wiener Stadtbildes geworden ist.
Die Szene formiert sich
Eindrucksvoll kann man in „Graffiti Wien“ sehen, wie diese ersten Einflüsse visuelle Spuren in der lokalen Szene hinterlassen haben. Künstler wie SETA ROC wurden zu lokalen Helden, die Kontakte zu anderen europäischen Pionieren in Paris und München knüpften.
SAND
Spätestens ab den frühen 90er Jahren ist Graffiti hierzulande explodiert und tendenziell immer aufregender und eigenständiger geworden.
Aus über 30.000 Fotos haben Stefan Wogrin und Maike Hettinger ausgewählt und im ersten Band „Graffiti Wien (1984-1999)“ nun knapp 1.000 Bilder dokumentiert. Weil sie so viel Material bekommen haben und ständig neue Bilder entstehen, haben sie beschlossen, eine mehrteilige Serie zu veröffentlichen. Es werden in naher Zukunft weitere Teile von „Graffiti Wien“ erscheinen. Sie haben den gesamten Release in Eigenregie verantwortet und verkaufen „Graffiti Wien“ mittlerweile im regulären Buchhandel und international. Eine spannende Zeitreise mit unzähligen inspirierenden Einblicken in die farbintensive Welt der tanzenden Buchstaben.
Publiziert am 02.02.2024