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A homeless person sleeps by the entrance to a money exchange shop in central London on May 16, 2017

AFP PHOTO / Daniel Leal- Olivas

Robert Rotifer

Gottseidank nicht in England

Jährliche Rückkehr in das Land, wo Obdachlose Prinzenhochzeiten stören. Samt vorübergehenden Selbstzweifeln über das Bedienen eurer schalen Schadenfreude.

Von Robert Rotifer

Nach Hause fahren. In einem Moment zusammengefasst bedeutete das diesmal eine belgische Autobahn um vier in der Früh im Regensturm zwischen Aufschwimmen und irgendwie Weiterrollen, hin und wieder überholt von Blechbrocken mit gepunkteten Rücklichtern, darin verborgen Menschen, die auf die technologische Überlegenheit des Kokons um sie herum offenbar mehr vertrauten als wir.

Ein, zwei Stunden später saßen wir im vom Wind geschüttelten Auto vor dem geschlossenen Charles Dickens-Einkaufszentrum nahe dem Schlund des Eurotunnel zu Calais, rund um uns Gefährte mit Kennzeichen derselben Farben: Vorne weiß, hinten gelb. Zwischendurch konnte man schlotternden Gestalten in Trainingsanzügen dabei zusehen, wie sie versuchten, auf dem Boden zu bleiben und dabei auch noch Zigaretten anzuzünden. Der lästige, rassistische Hobby-Volkskundler in mir identifizierte sie nach phänotypischen Kriterien als zentraleuropäische Plastikbriten wie wir selbst, auf der Rückkehr in das Land, das uns nicht zurücklieben will.

„Attendez l’appel“ stand auf der Tafel neben dem Buchstaben, der dem auf unserem Rückspiegel hängenden Zettel entsprach. Und das taten wir auch, während draußen vor der Scheibe ein Pfeil mit der Aufschrift „Grande-Bretagne“ unter dem Peitschen der Böen bebte und zitterte. Ein wenig weiter links, folgend der Spitze des Pfeils, flatterte synchron dazu die Zellophan-Einlage in einem Müllkorb aus Aluminium. Der Symbolismus war zu krud, um ihn hier auszubuchstabieren. Und das wiederum brachte mich dazu, über die Aufgabe meines Blogs nachzudenken.

Schild "Grande-Bretagne" vor dem Kanaltunnel in Calais

Robert Rotifer

Bisher haben meine Depeschen ihre Feelgood-Funktion wohl frei nach Fehlfarben aus ihrem unverschämten Appell an das „Gottseidank nicht in England“-Gefühl in euch da drüben bezogen. Angesichts aktueller Zustände in Österreich mag diese Schadenfreude nun allerdings eher schal schmecken. - Auffallend jedenfalls, wie wenige Wohlmeinende in Wien mir diesmal das „Zurückkommen“ empfahlen.

„In England auch nicht besser“, das ist kein brauchbarer Songtitel oder Kolumnenköder, ja nicht einmal ein Sentiment, das man bedienen wollen sollte, also bitte, was soll 2018 meine Mission hier sein?

Gleich am Morgen nach dieser Fragestellung, ich hatte mich noch nicht einmal von der Kontinentaldurchfahrt erholt, wischte bereits die erste Zeitungsschlagzeile alle diese Selbstzweifel im Nu davon. Wie da zu lesen war, hatte ein gewisser Simon Dudley, Chef der Gemeindeverwaltung von Windsor und Maidenhead, in einer Serie von aus seinem Skiurlaub in den USA abgefeuerter Tweets gefordert, die Polizei möge rechtzeitig vor der (hiermit hier zum ersten Mal erwähnten!) Prinzenhochzeit am 19. Mai die das Stadtbild störenden Obdachlosen aus dem königlichen Windsor entfernen. „Die ganze Situation“, eine „Epidemie des Schlafens auf der Straße und der Vagabundiererei“, präsentiere nämlich seine „schöne Stadt in einem traurig unvorteilhaften Licht.“

Land der obdachlosen Krankenschwestern

Erst am Abend davor war ich durch das Zentrum von Canterbury gelaufen. Auch so eine schöne Stadt, auf deren Retro-Kopfsteinpflaster immer mehr verlorene Figuren in der Kälte kauern. Aus dem Mund eines dieser Menschen kam mir nicht nur die Frage nach „change“, sondern auch nach „some food“ entgegengedampft. Das hatte ich so in diesem Land noch nie gehört. Um Geld betteln zu müssen, ist schlimm genug. Wenn aber einer einfach nur mehr was zu essen will, haben wir es schon mit einer ganz anderen Stufe von Verzweiflung zu tun.

In den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts hatte ich in London zum ersten Mal in meinem Leben Obdachlose auf der Straße schlafen gesehen. Ich erinnere mich gut daran, wie unerklärlich und unfassbar mir das damals erschien. London hat mir in den folgenden Jahrzehnten beigebracht, über Menschen hinweg zu steigen. Ich brauche das also nicht mehr zu lernen, wenn Wien heute schon dasselbe verlangt. In der Zwischenzeit wächst in Großbritannien der Anteil an berufstätigen Obdachlosen, die sich trotz Jobs keine Wohnung leisten können, darunter mittlerweile sogar chronisch unterbezahlte Krankenschwestern.

„Immerhin noch nicht ganz so schlimm wie in England“ klingt jetzt auch nicht rasend tröstlich, aber wo wir schon bei den britischen Krankenschwestern sind: In diesem noch ziemlich neuen Jahr, genau genommen am 5.7. wird die (der? das?) NHS, jenes einst so vorbildhafte, staatlich finanzierte und für alle Bürger_innen gratis zugängliche britische Gesundheitssystem, sein 70. Jubiläum feiern. Oder vielleicht wäre „begehen“ das bessere Wort, schließlich befindet die (der? das?) NHS sich derzeit in seiner historisch wohl schwersten Krise.

55.000 geplante Operationen mussten diesen Winter bereits aus Mangel an Ärzten, Betten und sonstigen Ressourcen abgesagt werden. Vor den Notaufnahmen stauen sich Rettungswägen voller unbehandelter Patient_innen, den Krankenhäusern geht mittlerweile sogar der Platz in den Gängen aus, und Ärzte sprechen bereits offen von „Zuständen wie in der Dritten Welt.“

Gesundheitsminister Jeremy Hunt hat sich bei den Betroffenen entschuldigt und bereits angedeutet, dass „Fragen über die Finanzierung des NHS gestellt werden“ müssten. Da wurde also eine beispielhafte öffentliche Institution systematisch an die Wand gefahren, bis der Punkt erreicht ist, wo alle sagen: So geht’s nicht weiter.

Dann eben gleich die bisher nur schleichend begonnene Privatisierung zu Ende führen, und nach 70 Jahren ist Schluss mit dem letzten noch bestehenden Restchen sozialistischer Nachkriegsutopie in Großbritannien.

„Gottseidank nicht krank in England.“
Also doch die alte Losung als Mehrwert dieses Blogs.

Und wie sang in jenem Song einst Peter Hein?
„Du stehst in der Fremde, deine Welt stürzt ein.“

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