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Fassade des Centre Point

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

Leere Türme, volle Säcke

Nicht zum ersten Mal in seiner 52-jährigen Existenz steht einer von Londons ältesten und wiedererkennbarsten Wolkenkratzern, der Centre Point, im Mittelpunkt der Frage: Wem gehört die Stadt? Ihrer Bevölkerung oder den Spekulant_innen?

Es ist das Hochhaus, das jede_r kennt, der oder die je in London war. Nicht das höchste, das ist unbestritten The Shard, gefolgt von einem ganzen Haufen anderer Phalli in der City und Canary Wharf, vielleicht nicht das schönste (kann man allerdings durchaus streiten drüber), aber einfach das unvermeidlichste.

Der Centre Point ist tatsächlich das, was sein arroganter Name sagt, gelegen an jenem zentralen Punkt am Ende der Oxford Street bzw. dem Beginn ihrer kleinen Schwester, der New Oxford Street, also am äußersten Zipfel von Soho, südlich des British Museum, nördlich des Theatreland und westlich aber immer noch in Gehweite von der City. Jener zu Fuß oder auf Rädern nur sehr umständlich passierbaren Kreuzung also, wo nun schon seit vielen Jahren eine der größten Baustellen des aufgeschobenen Cross-Rail-Projekts wütet und die nervigsten Beatboxer des Universums Trauben trister Tourist_innen terrorisieren, die nicht weitergehen, weil sie nicht können. Wenn deren Blicke auf der Suche nach Trost nach oben schweifen, werden sie gefangen von der gnadenlosen Geometrie einer Fassade aus Beton und Glas, gleichzeitig (quasi) brutistisch und feingliedrig, klotzig und elegant.

Fassade des Centre Point

Robert Rotifer

Als das Gebäude zwischen 1963 und 1966 aus dem Boden eines der ehemals schlimmsten Slums 117 modernistische Meter hoch in den Himmel sprießte, muss es wie eine einzige Erniedrigung der Gegend rundherum erschienen sein.

Das swingende London der Musiker_innen, Literat_innen und Filmemacher_innen, hatte ja viel für moderne Lebensart aber wenig für moderne Architektur übrig, da angelte man sich lieber ein verwunschenes georgianisches Haus in Islington, warf ein paar indische Tücher über die Ohrensessel und schuf sich damit – durchaus unbewusst – die Basis für spätere Reichtümer.

„Social cleansing“

Wolkenkratzer wollte dagegen in London keiner außer den progressiven Paternalisten in den Gemeindeverwaltungen, die scheinbar unrenovierbare Straßenzüge per Handstreich wegfegten, freilich zum Wohl des städtischen Proletariats, das nicht verstehen wollte, dass es nicht Klo und Bad kriegen und seine alte Nachbarschaft behalten konnte.

Doch während anderswo die Slum-Bereinigungen wenigstens Platz für neue Sozialwohnungen frei machten, waren der Centre Point und die (seither großteils wieder abgerissenen) Büroblocks in den umliegenden Straßen ein frühes Beispiel für die Praxis des „social cleansing“. Das Zentrum Londons sollte nicht nur von den Slums, sondern auch von deren menschlichem Inhalt befreit werden.

Dort, wo heute der Centre Point steht bzw. in den Straßen dahinter, wo neuerdings ein paar von Renzo Pianos misslungensten Gebäuden Fischer-Technik-Charme in gelb, orange und grün versprühen, wucherte nämlich einst Londons berühmteste „rookery“, wörtlich ein Krähenhorst, metaphorisch ein Elendsviertel voller Sünde und Verbrechen, Sammelplatz sämtlicher Unerwünschter.

Wir können den Centre Point also – im Verbund mit den damals ohne Rücksicht auf Verluste durch die Stadt getriebenen „urban motorways“ - getrost als Symbol der anderen, brachialen Seite der sonnigen Sixties sehen (ein Detail für Britpop-Kenner_innen: Die technische Leitung des Baus des Centre Point oblag der Firma des Vaters von Justine „Elastica“ Frischmann).

Der verhasste Turm

Nicht zufällig gab der sozialistisch-anglokatholische Priester Kenneth Leech der Wohltätigkeitsgesellschaft für Obdachlose, die er 1969 ins Leben rief, den bitter sarkastischen Namen „Centrepoint“ (die Organisation existiert noch heute, mit Prince William als Schutzherr).

Unter Londons Bevölkerung war der Turm jedenfalls großteils verhasst, nicht nur weil der architektonische Volksgeschmack ein nostalgischer ist, sondern weil das Ding nach seiner Erbauung neun Jahre lang völlig leer stand. Sein Bauherr, der Immobilienspekulant Harry Hyams, wartete so lange zu, bis er einen einzelnen Mieter fand, der mehr als einenviertel Millionen Pfund für die Nutzung der 33 Stockwerke zu zahlen bereit war. 1974 drangen für kurze Zeit sogar Hausbesetzer_innen ein und hielten einen viel Aufsehen erregenden Protest gegen die Verschwendung wertvollen potenziellen Wohnraums ab. Im Jahr darauf brachten endlich die ersten Büro-Mieter die Fenster zum Leuchten.

Ich kann mich noch gut an die immer reich bepissten, mosaik-gekachelten Fußgängertunnel erinnern, die früher die Gehsteige der Tottenham Court Road/Oxford Street/Charing Cross Road unterirdisch miteinander bzw. mit der Insel des Centre Point verbanden. Wer versehentlich dort die Stiegen zur Basis des Turms hinaufging, fand sich in der Mitte eines ohrenbetäubenden, mit schwarzen Taxis und roten Bussen bestückten, niemals anhaltenden Karussells wieder.

Fassade des Centre Point

Robert Rotifer

Innenperspektive

Zweimal sah ich auch die Innenseite des Gebäudes. Einmal, als der Kollege Edlinger so vor 16, 17 Jahren nach Locations für eine Doku über die Überwachungsgesellschaft suchte. Ich dachte mir, von da ganz oben auf die Oxford Street hinunter zu filmen, das wär ein bildsprachlich guter Blick auf die kleinen Männer und Frauen auf der Straße. Im Erdgeschoss gab’s zwar schon ein Empfangspult und Wachpersonal, aber damals funktionierte noch der alte Trick, mit entschlossener Miene zielgerichtet auf die Lifttüren zuzustreben, so als wüsste man, was man tut. Ich schritt also energisch an den bemützten Sheriffs vorbei, fuhr in einer abgenützt holzgetäfelten Liftkabine hinauf in den obersten Stock, ging über einen müden blaugrünen Spannteppich (die Erinnerung mag täuschen) bis ans Gangfenster und sah durch das vom Staub der letzten vier Jahrzehnte milchig getönte Glas hindurch bis nach Marble Arch am anderen Ende der Oxford Street. Klingt gut, erwies sich aber als optisch banaler denn erhofft. Nicht wert, dafür einer Drehgenehmigung nachzujagen.

Das zweite Mal, dass ich drin war, war 2005, da hatten die Turmherren bereits post-9/11-taugliche, elektronische Barrieren eingerichtet. Im 29. Stock befand sich das Mastering-Studio Alchemy, und dort hatte ich was zu mastern. Oder mastern zu lassen, ihr versteht.

Man konnte da also hinterm Mischpult sitzen, seine Musik so laut und rund und voll wie nie zuvor klingen hören, paranoid nach Knistern und Knacksern lauschen, und draußen vor den großen Fenstern tanzten dazu die tausend Lichter des West End (es war Abend). Vor lauter Mastering-Trance bekam ich gar nichts davon mit, dass das Gebäude im selben Jahr für 85 Millionen Pfund seine Besitzer_innen wechselte.

Rückkehr zum primären Nutzen: Der Spekulation

Zehn Jahre später erwarb wiederum die Firma Almacantar den Turm, warf alle Büros raus und begann mit der Verwandlung des Centre Point in ein Wohnhaus. Ein Luxuswohnhaus, versteht sich. Und trotz dieser Transformation ist es nun, 52 Jahre nach seiner Fertigstellung, großteils wieder zu seinem ursprünglichen, primären Nutzen zurückgekehrt, nämlich der Geldvermehrung für Spekulanten.

Mike Hussey heißt der Mann, der diesmal beschlossen hat, die Hälfte der 82 Wohnungen im Gebäude lieber leer stehen zu lassen als sie zu verkaufen.

Wie er letzte Woche öffentlich beklagte, reflektierten die Angebote, die er hereinbekomme, eine temporäre „Unsicherheit“, unter anderem im Bereich der „Besteuerung von Investoren aus Übersee“ (sprich Brexit). Er sehe keinen Sinn darin, „einem Markt nachzulaufen, der zunehmend von der Realität entfernt ist.“

Die Realität, wie Hussey sie sieht, ist eine Welt, in der er umgerechnet zwei Millionen Euro für eine Einzimmerwohnung und über 57 Millionen Euro für eine Maisonette verlangen kann. Das ist der Markt, den nicht nur er, sondern die ganze Londoner Luxusblase sich in den letzten Jahren zurechtfantasiert hat. Auch hinter den von neugierigen Drohnen umschwärmten Glasfassaden von The Shard stehen zehn Luxuswohnungen leer, die mit umgerechnet rund 34 bis 63 Millionen Euro ausgepreist sind. Rund 1900 der letztes Jahr in London auf den Markt gekommenen Luxuswohnungen blieben unverkauft.

Der Markt ohne Schwerkraft und die Toten in den Tonnen

Man muss kein_e Kapitalismuskritiker_in sein, um das obszön und idiotisch zu finden. Im Gegenteil: Ein Markt, der ausbleibende Nachfrage einfach ignoriert, operiert ganz offensichtlich außerhalb kapitalistischer Naturgesetze, und wie wir zum zehnjährigen Jubiläum der Finanzkrise und der ihr folgenden Ära der nie enden wollenden Sparprogramme feststellen, gibt’s am Ende immer jemand, der oder die für sowas bezahlt.

Man könnte also einfach lachen über die verblendeten Spekulanten, die auf ihren unverkäuflichen Juwelen sitzen und auf bessere Zeiten hoffen, aber ihr Werken hat reale Konsequenzen und einen unübersehbaren Kontext: Der Mangel an leistbarem Wohnraum in London hat nämlich solch katastrophale Ausmaße erreicht, dass in der Stadt zwischen Juli und September 3103 auf der Straße schlafende Obdachlose gezählt wurden. Gezählt, wohlgemerkt. Niemand weiß, wie viele mehr es wirklich sind, aber diese Zahlen bedeuten einen Anstieg von 20 Prozent gegenüber den drei Monaten davor bzw. von 17 Prozent gegenüber dem Vergleichszeitraum im letzten Jahr.

Im vergangenen Jahr wurden mehr als 440 Todesfälle von Obdachlosen verzeichnet, auch hinter dieser Zahl lauert eine unbekannte Dunkelziffer, zumal es dafür keine offizielle Statistik gibt. Angesichts der fallenden Temperaturen und der gewalttätigen Übergriffe, denen Obdachlose ausgesetzt sind, schlafen immer mehr von ihnen in Mülltonnen und kommen so in Gefahr, in den frühen Morgenstunden in einen Müllwagen gekippt und von dessen Presse zerdrückt zu werden.

Mitgefühl mit den Baumagnaten!

Gleichzeitig wurde gestern aus Gründen der schiefen Optik der Chef der Baufirma Persimmon, ein gewisser Jeff Fairburn, abserviert, weil er sich weigerte, auf Bonuszahlungen in der Höhe von umgerechnet 86 Millionen Euro zu verzichten (ursprünglich hätte er rund 126 Millionen erhalten sollen, eine weitere Reduktion seines Bonus wollte er nicht hinnehmen). Dass der Name seiner Firma ein bisschen so wie „parsimonious“, also „sparsam" bzw. "knausrig“ klingt, verleiht der ganzen Sache noch die Note eines Dickensianischen Sittenbilds.

Fairburn jedenfalls sieht sich im Recht und von den Medien unfair behandelt, und vielleicht müssen wir uns tatsächlich mit ein wenig Empathie in die Welt seiner Branche hineinversetzen: Wo kämen wir denn hin, wenn selbst der bestbezahlte Baumagnat sich die 57 Mille für ein Penthouse im Centre Point nur unter Entbehrungen leisten kann?

Auf ihre Art müssen sich also selbst Superreiche in London schon arm fühlen. Was die Frage aufwirft: Für wen funktioniert diese Stadt eigentlich überhaupt noch?

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