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Pete Shelley

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nachruf

Pete Shelley: 1955 - 2018

Zur Erinnerung an einen der mutigsten, schlauesten und liebenswertesten Erneuerer des britischen Pop.

Von Robert Rotifer

„Oh fuck, oh no!“ hörte ich Freund und Kollegen Andy im Kopfhörer aus dem Control Room brüllen. Ich war gerade dabei gewesen, einen Gitarrenpart einzuspielen, und hatte den eigentlich nicht sooo schlecht gefunden.
„You won’t believe who’s died now!“, waren seine nächsten Worte.
„Who?"
Kurze Pause, Atemholen.
"Pete fucking Shelley!“

Zwei Gedankenfetzen, die mir in diesem Moment ins Hirn schossen:

A) Ich wollte mir nie die gealterten Buzzcocks ansehen, um das in Film und Foto eingefangene Bild eines jungen Pete Shelley und Steve Diggle als perfekte Anti-Macho-Punk-Rock-Stars von vor vierzig Jahren nicht zu zerstören. Und jetzt tat mir das ganz ehrlich und egoistisch leid.

B) Das Bild jenes verregneten Londoner Tages Anfang 2003, als ich hinauf ins Lord Stanley Pub an der Camden Road ging, um Pete Shelley zum damals gerade noch nicht erschienenen, insgesamt siebten bzw. dem vierten Album der Band in ihrer zweiten Existenz-Phase zu interviewen. Da saß dieser kleine Mann im schwarzen Anorak mit seinem Bier ganz allein, fast hätte ich ihn nicht erkannt.

„Das war unser ‚I am Spartacus‘-Moment“

Im Gegensatz zu gewissen anderen Punk-Veteranen war an ihm keine Spur der Arroganz oder Verbitterung zu spüren. Mit einem freundlich verschmitzten Lächeln im Gesicht erzählte er mir in seinem vom Leben angekratzten Manchester-Englisch geduldig die alten Geschichten, die er für Leute wie mich schon tausende Male heruntergebetet haben musste:

Wie er und sein Freund Howard (Devoto), mit dem er 1975 die Buzzcocks gegründet hatte, im Jahr darauf im NME das erste gedruckte Interview mit dem Sex Pistols lasen, in dem Johnny Rotten sagte: „We’re not into music, we’re into chaos.“ Wie sie nach diesem Satz sofort gewusst hätten, dass sie Geistesverwandte gefunden hatten.

Wie Howard und er daraufhin ins Auto hüpften und runter bis nach High Wycombe fuhren, um sich die Pistols live anzusehen. Wie sie Malcolm McLaren und die Pistols spontan einluden, in Manchester zu spielen, dort die Lesser Free Trade Hall mieteten und sich selbst als Vorband auf die Bühne stellten (und ja, gemäß der Legende war die ganze später berühmte Musikszene von Manchester mehr oder weniger vollzählig anwesend, aber das war eben genau die kleine Schnittmenge von Menschen, die damals in jener Stadt die Werke der Stooges, der New York Dolls oder The Velvet Underground kannten und mochten). „Wenn ich zu jener Zeit in Manchester als DJ Iggy Pop auflegte, wurde ich immer aufgefordert, mein Set zu beenden“, sagte Shelley und lachte herzlich in sein Bier. „Man kann sich nicht mehr vorstellen, wie aufregend die Musik der Sex Pistols damals klang. It stopped traffic.“

Wir sprachen natürlich auch über Spiral Scratch (1977), die Debüt-EP, erschienen im Jänner 1977, einem historischen Artefakt in Seven Inch-Gestalt, nicht nur als eine der frühesten und besten Punk-Singles, sondern auch eine der ersten Produktionen von Martin Hannett (später als Haus-Produzent von Factory Records verantwortlich für den Sound von Joy Division, New Order, A Certain Ratio, frühen Happy Mondays etc.) und das auslösende Moment des britischen Independent-Label-Booms, erschienen auf dem Band-eigenen „Label“ New Hormones mit einem Budget von 500 Pfund. „Das war unser ‚I am Spartacus‘-Moment“, sagte Pete Shelley. Der Moment also, da die Sklaven sich den Römern, sprich die Bands sich der Plattenindustrie entgegenstellten und ihr Schicksal selbst in die Hand nahmen. Mitsamt des daraus folgenden Massakers natürlich.

Jede_r hat ja ihr/sein eigenes Punk-Verständnis, aber „Boredom“ aus „Spinal Scratch“, mit seinem am Ende des Refrains selbstironisch weggeworfenen Titel („badam“) ist einer der wenigen Punk-Songs, die ich auch heute noch hören mag.

Jetzt jedenfalls, das traf mich gestern wie ein Hammerschlag, war dieser freundliche Mann, mit dem ich damals zwei Stunden im Pub verbracht hatte (als ich mein Aufnahmegerät abgedreht hatte, wurde er noch eine Stufe aufgekratzter), nicht mehr am Leben. Nicht mehr da, um seine Schnurren zu erzählen und als einer der wenigen Überlebenden seiner Generation dieselben alten Songs immer noch in Würde zu spielen. Denn, was in Freund Andys schockiertem Ausruf bereits mitgeklungen war, war auch der unvermeidliche, böse Gedanke: „Ausgerechnet der, von allen, die’s treffen hätte können...“

„Hast du dich je in jemand verliebt, in den du dich nicht verlieben solltest?“

„Oh fuck, oh no!“, das war gestern Nacht denn auch die Konsensbotschaft in meiner Timeline, während die Erlebnisse einer gewissen Generation von Menschen eintrudelten, deren eigene verlorene Jugend sich an Erinnerungen des Erwerbs und Zu-Tode-Spielens von Buzzcocks-Platten festmachen lässt.

Just for the record: Meine erste Second Hand-erworbene Buzzcocks-Platte war „Another Music in a Different Kitchen“, ihr LP-Debüt aus dem ’78er Jahr, irgendwann Ende der Achtziger um ein paar Pennies gekauft wegen des coolen Covers, gefolgt vom ebenso günstigen Erwerb des Zweitlings aus demselben (!) Jahr „Love Bites“ („Die Liebe beißt“ bzw. „Knutschflecken“, schlauer Titel). Diesmal mit hässlichem Cover, dafür war da der Song drauf, den alle in meinem Umkreis gerade nach zehn Jahren wiederzuentdecken schienen:

Es hatte sich inzwischen herumgesprochen, dass „Ever Fallen in Love With Someone“ („Hast du dich je in jemand verliebt, in den du dich nicht verlieben solltest?“) ein Song über eine nicht erwiderte schwule Liebe war:

"You spurn my natural emotions / You make me feel I’m dirt and I’m hurt”

„Du weist meine natürlichen Empfindungen zurück, du gibst mir das Gefühl, ich sei Schmutz, und ich bin verletzt“, diese ersten Zeilen klingen losgelöst von ihrem upbeat rockenden Kontext sensibel und verwundbar wie nichts, das man sonst mit Punk assoziieren würde. Aber hier hatten wir es eben mit einem Punk-Songwriter zu tun, der sich nicht Vicious oder Rotten oder Strummer, sondern nach dem revolutionären romantischen Poeten Shelley benannt hatte (bürgerlich hieß er McNeish).

Ich erinnere mich, wie ich Pete Shelley fragte, ob ihn die Sexual Politics von „Ever Fallen in Love“ damals in Schwierigkeiten brachten, und er winkte ab: „Nein gar nicht, die Leute haben das nicht mitgekriegt.“

Vielleicht war das ja auch der Grund, warum er 1981 auf seinem Song bzw. gleichnamigen Album „Homosapien“ das Thema noch einmal ganz konkret ansprach:

"And the world is so wrong that I hope that we’ll be strong enough
For we are on our own and the only thing known is our love
I don’t wanna classify you like an animal in the zoo
But it seems good to me to know that you’re Homosapien too”

Homosapien war aber nicht nur inhaltlich, sondern auch von seiner Produktion her bahnbrechend. Das zum Song gehörende Album entstand nach dem Scheitern der Sessions zu einem geplanten vierten Buzzcocks-Album. Nachdem die Band sich im Studio zerstritten hatte, machte Shelley mit Produzent Martin Rushent solo weiter. Letzterer hatte zuvor mit seiner Arbeit für Shirley Bassey und die Stranglers viel Geld verdient, das er in das neueste elektronische Equipment steckte. Pete Shelley traf diese Arbeitsweise nicht unvorbereitet, denn er hatte schon in den frühen Siebzigern mit Elektronik experimentiert. Siehe das 1974 mit einem selbstgebauten Oszillator, 1980 in einer limitierten Auflage herausgegebene Album „Sky Yen“. Einst ein Mythos, den man nur von Beschreibungen her kannte, heute natürlich auf Youtube jederzeit abrufbar.

Martin Rushent jedenfalls sollte nach „Homosapien“ unter anderem The Human League produzieren und entscheidend zur elektronischen Revolution des Pop beitragen. Als ich mich vorhin gerade bei meinem Freund Andy für meine Verspätung auf dem Weg ins Studio entschuldigte (weil ich gerade diesen Nachruf schreibe), meinte der, dass es ohne Shelleys erstes (wenn man „Sky Yen“ mitrechnet, sein zweites) Solo-Album keine Pet Shop Boys gegeben hätte.

Kann gut sein. Wäre ja auch kein richtiger Nachruf, wenn keine „ohne x hätte nicht y“-These drin vorkäme. Als quasi-rationales Argument dafür, warum wir alle traurig sein dürfen, dass da so ein Guter von uns gegangen ist. Im Alter von nur 63 Jahren, in Tallinn in Estland, wo Pete Shelly seit ein paar Jahren mit seiner zweiten Frau lebte (er war bisexuell, falls sich jemand fragt oder das eine Rolle spielen sollte...).

Zum Abschluss und Abschied noch ein paar große Songs aus seiner Zeit bei den Buzzcocks („Was? Kein ‚What do I get‘?“ - Selber googlen...), die vielleicht in meiner FM4 Heartbeat-Sendung nächsten Montag vorkommen werden:

Orgasm Addict: Wie Jon Savage richtig getweetet hat (seine Timeline ist gerade heute einen Besuch wert), einer der besten Songs, die je über Sex geschrieben wurden. In diesem Fall über den Sex mit sich selbst.

Nostalgia: Immer einer meiner liebsten Buzzcocks-Songs, weil die Zeile “nostalgia for an age yet to come” ganz genau ausdrückt, was ich mein Leben lang gespürt habe (bzw. mich vom dabei mitschwingenden Schuldgefühl befreit).

Everybody’s Happy Nowadays: Punk meets Motown und Beach Boys-Refrain. Einer für die mit den Strokes aufgewachsene Generation, denen die Älteren damals immer sagten, dass es das alles schon 30 Jahre vorher gegeben hätte: Das haben die gemeint. Muss hier vorkommen, schon allein, weil so viele in ihren Tributen an Pete Shelley die Kernzeilen daraus zitiert haben:

„Life’s an illusion, love is a dream“

Genauso wichtig ist aber der Nachsatz:

„But I don’t know what it is.“

Oh fuck, oh no.

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